Hueter der Erinnerung
er nicht die leiseste Ahnung hatte, welche Aufgabe ihm zugeteilt werden würde.
Er lachte leise auf. Denkst du schon wieder an die Zeremonie, Jonas?, neckte er sich. Aber er konnte sich des Verdachts nicht
erwehren, dass es so kurz vor dem großen Ereignis vermutlich allen seinen Freunden so ging.
Jonas überholte einen Pfleger, der langsam mit einer Alten über den Korridor spazierte. »Hallo, Jonas«, sagte der junge Mann
in Dienstkleidung erfreut. Die alte Frau, die er am Arm stützte, ging vornübergeneigt und schlurfend. Sie blickte in Jonas’
Richtung und lächelte, aber ihre dunklen Augen waren irgendwie bewölkt und leer. Jonas begriff, dass sie blind war.
Er betrat den feuchten, warmen Badesaal, in dem es nach Badezusätzen duftete. Er zog seine Tunika aus, hängte sie sorgfältig
an einen Wandhaken und zog einen der Volontärskittel an, die zusammengefaltet in einem Regal lagen.
»Hey, Jonas!«, rief Asher aus einer Ecke, wo er neben einer Wanne kniete. Jonas erblickte auch Fiona neben einer anderen Wanne.
Sie sah auf und lächelte, widmete sich aber gleich wieder dem alten Mann im warmen Wasser.
Jonas begrüßte Asher und Fiona sowie die anwesenden Altenpfleger. Dann ging er zu den Polsterstühlen, wo einige Alte darauf
warteten, dass sie an die Reihe kamen. Jonas war nicht zum ersten Mal hier; er wusste, was zu tun war.
Er wandte sich an eine alte Frau, die wartend und gleichgültig auf einem Stuhl saß. »Du bist dran, Larissa«, sagte er, nachdem
er das Namensschild an ihrer Brust gelesen hatte. »Ich lasse schon mal das Wasser einlaufen und dann helfe ich dir aufstehen.«
Er drückte auf den Knopf einer leeren Wanne in der Nähe und schaute zu, wie das warme Wasser aus den vielen kleinen seitlichen
Öffnungen schoss. Innerhalb einer Minute würde die Wanne voll sein und der Wasserfluss automatisch aufhören.
Er half der Frau aufzustehen, führte sie zu ihrer Wanne, zog ihr den Bademantel aus und stützte sie mit beiden Händen, als
sie in die Wanne stieg und sich langsam ins Wasser gleiten ließ. Sie lehnte sich zurück und seufzte zufrieden, als sie ihren
Kopf auf das weiche Nackenkissen gebettet hatte.
»Bequem so?«, fragte Jonas und sie nickte mit geschlossenen Augen. Jonas drückte etwas Badelotion auf den sauberen Schwamm,
der auf dem Wannenrandlag, und begann, ihren gebrechlichen, dünnen Körper einzuseifen.
Gestern Abend hatte er zugesehen, wie sein Vater den Säugling gewaschen hatte. Das hier war ganz ähnlich: die dünne Haut,
das beruhigende Wasser, die langsamen Bewegungen seiner Hand, die von der Seife ganz glitschig war. Auch der entspannte, friedliche
Ausdruck auf dem Gesicht der Alten erinnerte ihn an Gabriel, wenn er gebadet wurde.
Auch die Nacktheit. Es war gegen die Regeln, dass Kinder oder Erwachsene einander nackt sahen. Aber diese Regel galt natürlich
nicht bei Säuglingen oder Alten. Jonas war froh darüber. Es war lästig, sich ständig bedecken zu müssen, wenn man sich beim
Sport umzog. Und die vorgeschriebene Entschuldigung, wenn man aus Versehen einen Blick auf den unbekleideten Körper eines
anderen geworfen hatte, war immer sehr peinlich. Er begriff nicht, was daran schlimm sein sollte. Er mochte das Gefühl der
Sicherheit, das dieser warme, ruhige Saal ausstrahlte. Er mochte den vertrauensvollen Gesichtsausdruck der Frau, die schutzlos
und entblößt im Wasser lag.
Aus den Augenwinkeln konnte er sehen, wie Fiona dem alten Mann aus der Wanne half und seinen dünnen, nackten Körper ganz vorsichtig
mit einem Handtuch trocken tupfte. Danach half sie ihm wieder in seinen Bademantel.
Jonas glaubte, Larissa wäre eingeschlummert, wie die Alten das oft tun, und seine Bewegungen wurdenganz langsam und behutsam, um sie nicht aufzuwecken. Er war überrascht, als sie plötzlich sprach, obwohl ihre Augen noch geschlossen
waren.
»Heute früh haben wir Robertos Abschied gefeiert«, sagte sie. »Es war wunderschön.«
»Ich kannte Roberto«, sagte Jonas. »Ich habe ihn gefüttert, als ich das letzte Mal hier war, erst vor ein paar Wochen. Ein
sehr interessanter Mann.«
Larissa schlug die Augen auf und strahlte. »Sie schilderten sein ganzes Leben, ehe er freigegeben wurde«, sagte sie. »Das
ist immer so. Aber um ehrlich zu sein«, flüsterte sie mit einem schelmischen Blick, »einige dieser Schilderungen sind ziemlich
langweilig. Ich habe sogar schon gesehen, dass manche der Alten dabei eingeschlafen sind – wie
Weitere Kostenlose Bücher