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Hueter der Erinnerung

Titel: Hueter der Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lois Lowry
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Vortag dem einen Bürger mit einem gewissen Widerwillen eine Strafe auferlegen
     musste, da er zum zweiten Mal gegen eine wichtige Regel verstoßen hatte.
    Vater sagte, er habe nichts geträumt.
    »Eli?«, fragte Vater und beugte sich zu dem Korb hinunter, in dem der Säugling lag, frisch gefüttert und zufrieden glucksend.
    Alle lachten. Das Traumerzählen begann normalerweise bei den Dreiern. Ob auch schon Säuglinge träumten, wusste niemand.
    »Jonas?«, fragte Mutter. Er wurde immer gefragt, obwohl alle wussten, wie selten Jonas einen Traum zu erzählen hatte.
    »Letzte Nacht habe ich tatsächlich etwas geträumt«, sagte Jonas. Unruhig und stirnrunzelnd rutschte er auf seinem Stuhl hin
     und her.
    »Gut«, sagte Vater. »Erzähle uns deinen Traum.«
    »Die Einzelheiten sind mir nicht mehr sehr klar«, erklärte Jonas, während er verzweifelt versuchte, die seltsamen Bruchstücke
     einigermaßen zusammenzufügen. »Ich glaube, ich war im Badesaal im Altenzentrum.«
    »Wo du gestern ja auch tatsächlich warst«, ergänzte Vater.
    Jonas nickte. »Aber es war nicht genau da. Jedenfallssah ich eine Wanne in meinem Traum. Aber nur eine. Und im richtigen Badesaal gibt es ja jede Menge davon. Aber auch in dem
     Raum in meinem Traum war es warm und feucht. Ich zog meine Tunika aus, zog mir aber keinen Kittel über, sodass mein Oberkörper
     nackt war. Ich schwitzte, denn es war sehr heiß. Und auch Fiona war da, genau wie gestern.«
    »Asher auch?«, wollte Mutter wissen.
    Jonas schüttelte den Kopf. »Nein, nur Fiona und ich. Wir waren allein im Raum und standen neben der Wanne. Sie lachte. Ich
     nicht. Ich war fast ein bisschen wütend auf sie, im Traum, weil sie mich nicht ernst nahm.«
    »Wieso nicht ernst nahm?«, fragte Lily verständnislos.
    Jonas starrte auf seinen Teller. Aus irgendeinem Grund, den er nicht begriff, war er plötzlich etwas verlegen. »Ich glaube,
     ich wollte sie überreden, in die Wanne zu steigen.«
    Er verstummte. Er wusste, dass er alles erzählen musste, dass es nicht nur völlig in Ordnung, sondern geradezu unerlässlich
     war, dass er den ganzen Traum erzählte. Deshalb zwang er sich, auch den Teil zu erzählen, der ihm Probleme bereitete.
    »Ich wollte sie ausziehen und in die Wanne legen«, schoss es aus ihm heraus. »Ich wollte sie baden und hatte schon den Schwamm
     in der Hand. Aber sie lachte nur und schüttelte den Kopf.«
    Fragend blickte er seine Eltern an. »Das ist alles«, sagte er.
    »Welches war das stärkste Gefühl, das der Traum in dir hervorgerufen hat?«, fragte Vater.
    Jonas überlegte angestrengt. Die Einzelheiten waren trübe und verschwommen, aber die Gefühle waren klar und deutlich und sie
     überfluteten ihn auch jetzt noch, als er darüber nachdachte. »Das unbedingte Wollen«, sagte er leise. »Ich wusste, dass ich
     es nicht sollte, aber ich wollte es unbedingt. Ich verspürte nichts als diesen brennenden Wunsch.«
    »Vielen Dank für deinen Traum, Jonas«, sagte Mutter nach einer Weile. Sie blickte Vater fragend an.
    »Lily«, sagte Vater. »Zeit für die Schule. Würdest du heute Morgen neben mir hergehen und das Körbchen des Säuglings im Auge
     behalten? Ich fürchte, er könnte sich frei strampeln.«
    Jonas stand auf und packte seine Schulsachen zusammen. Er wunderte sich, dass sein Traum nicht zuerst besprochen worden war,
     bevor Mutter ihm gedankt hatte. Vielleicht fanden die anderen ihn genauso verwirrend wie er selbst.
    »Warte noch kurz, Jonas«, sagte Mutter mit zärtlicher Stimme. »Ich schreibe dir eine Entschuldigung für den Lehrer, damit
     du dich nicht persönlich für dein Zuspätkommen entschuldigen musst.«
    Verwundert sank Jonas wieder auf seinen Stuhl und winkte Vater und Lily zum Abschied zu, als siemit Eli im Körbchen das Haus verließen. Er wartete, bis Mutter den Tisch abgeräumt und das große Tablett mit den Resten vor
     die Haustür gestellt hatte. Die Müllmänner würden es später abholen.
    Schließlich setzte sie sich zu Jonas an den Tisch. »Jonas«, sagte sie mit einem Lächeln, »nun, das Gefühl, das du als brennenden
     Wunsch beschrieben hast   … Es war nichts anderes als deine erste Erregung. Vater und ich haben bereits damit gerechnet, dass es bald passieren würde.
     Es passiert jedem. Auch Vater, als er in deinem Alter war. Es passierte auch mir. Und eines Tages wird es auch Lily passieren.
     Und sehr oft«, fuhr Mutter fort, »beginnt es mit einem Traum.«
    Erregung. Er hatte das Wort schon gehört. Er

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