Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Hueter der Erinnerung

Titel: Hueter der Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lois Lowry
Vom Netzwerk:
erinnerte sich, dass im Buch der Regeln etwas darüber stand, aber er wusste nicht
     mehr, was genau. Ab und zu erwähnten es auch die Sprecher. ACHTUNG! EINE MAHNUNG AN ALLE! ERREGUNGSZUSTÄNDE MÜSSEN GEMELDET
     WERDEN, DAMIT SIE BEHANDELT WERDEN KÖNNEN!
    Bei dieser Durchsage hatte er nie zugehört, denn er begriff nicht, um was es ging, und es schien ihn sowieso nicht zu betreffen.
     Wie viele andere Bürger auch nahm er von den Durchsagen, die die Sprecher verlasen, nicht immer Notiz.
    »Muss ich es melden?«, fragte er seine Mutter.
    Sie lachte. »Das hast du doch bereits getan, indem du uns deinen Traum erzählt hast. Das reicht.«
    »Aber was ist mit der Behandlung? Die Sprecher sagen doch immer, dass so etwas behandelt werden muss.« Jonas fühlte sich schrecklich.
     Gerade jetzt, wo die Zwölfer-Zeremonie vor der Tür stand, sollte er sich irgendwo behandeln lassen? Nur wegen eines dummen
     Traums?
    Seine Mutter lachte erneut auf, dieses Mal beruhigend und liebevoll. »Nein, nein«, erklärte sie. »Nur Pillen. Du bist alt
     genug für die Pillen, das ist alles. Das ist die einzige Behandlungsart der Erregung.«
    Jonas’ Miene hellte sich auf. Darüber wusste er Bescheid. Seine Eltern nahmen sie beide, jeden Morgen. Auch ein paar seiner
     Freunde, das wusste er. Einmal, als er Asher abgeholt hatte, um mit ihm zur Schule zu fahren, war Ashers Vater seinem Sohn
     bis vor die Tür gefolgt und hatte ihm nachgerufen: »Du hast deine Pille vergessen, Asher!« Asher hatte kurz aufgestöhnt, sein
     Rad wieder gewendet und war noch einmal zurückgefahren, während Jonas gewartet hatte.
    Es handelte sich aber um etwas, das man selbst seinen besten Freund nicht fragte, weil es nämlich unter die peinliche Kategorie
     des »Andersseins« gefallen wäre. Asher nahm jeden Morgen eine Pille, Jonas nicht. Da war es schon besser, auf Nummer sicher
     zu gehen und über Dinge zu reden, die sie gemein hatten.
    Gehorsam schluckte Jonas die kleine Pille, die Mutter ihm reichte.
    »Das ist alles?«, fragte er erstaunt.
    »Das ist alles«, antwortete sie gelassen und stellte das kleine Fläschchen in den Schrank zurück. »Aber du darfst sie nicht
     vergessen. Während der nächsten Wochen werde ich dich noch daran erinnern, aber dann musst du dich daran gewöhnen und sie
     von selbst nehmen. Wenn du die Pille vergisst, kommen diese Gefühle wieder. Auch diese Träume. Manchmal muss die Dosis gesteigert
     werden.«
    »Asher nimmt sie auch«, vertraute Jonas seiner Mutter an.
    Seine Mutter schien nicht überrascht und nickte nur. »Wahrscheinlich etliche deiner Klassenkameraden. Zumindest die Jungen.
     Bald werden es alle tun. Auch die Mädchen.«
    »Wie lange muss man sie nehmen?«
    »Bis du ins Altenzentrum kommst«, erklärte Mutter. »Das ganze Erwachsenenleben hindurch. Aber es wird rasch zur Routine. Nach
     einer Weile wirst du sie ganz automatisch einnehmen.«
    Sie blickte auf ihre Uhr. »Wenn du dich gleich auf den Weg machst, kannst du noch pünktlich ankommen. Beeile dich! Und nochmals
     vielen Dank, Jonas«, fügte sie hinzu, als er bereits zur Tür ging, »für deinen Traum.«
    Während er emsig in die Pedale trat, fühlte sich Jonas seltsam stolz, zur Gruppe derjenigen zu gehören, die die Pille nahmen.
     Für einen kurzen Augenblick kam ihm sein Traum wieder in den Sinn. Irgendwiewar es nicht unangenehm gewesen. Obwohl sie etwas konfus waren, fand Jonas die Gefühle, die seine Mutter »Erregung« nannte,
     recht interessant. Beim Aufwachen hatte er sich gewünscht, sie würden andauern.
    Doch dann, genauso wie er sein Haus hinter sich ließ, als er mit seinem Rad um eine Ecke bog, ließ er auch die Erinnerungen
     an seinen Traum hinter sich. Ganz kurz und mit einem leichten Schuldgefühl versuchte er noch, sich an sie zu klammern. Aber
     plötzlich waren sie verschwunden. Die Erregung war vorbei.

6
    »Lily, bitte! Halt endlich still«, sagte Mutter zum wiederholten Male.
    Lily stand vor ihr und zappelte wie üblich ungeduldig herum. »Ich kann sie doch selbst binden«, beschwerte sie sich. »Tu ich
     doch sonst auch.«
    »Ich weiß«, antwortete Mutter geistesabwesend, während sie die Schleifen in Lilys Haar straff anzog. »Aber ich weiß auch,
     dass sie ständig verrutschen und spätestens heute Nachmittag wieder fast lose herumbaumeln. Ich möchte jedoch, dass sie wenigstens
     heute richtig gebunden sind und das auch bleiben.«
    »Ich mag Haarbänder nicht. Ich bin bloß froh, dass ich sie nur noch ein Jahr lang

Weitere Kostenlose Bücher