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Hueter der Erinnerung

Titel: Hueter der Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lois Lowry
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tragen muss«, stöhnte Lily. »Nächstes Jahr
     bekomme ich dann auch mein Fahrrad«, fügte sie voller Vorfreude hinzu.
    »Jedes Jahr hat etwas Gutes«, gab Jonas zu bedenken. »Dieses Jahr beginnst du mit deinen Praktikumsstunden. Und weißt du noch,
     wie du dich gefreut hast, als du als Siebener die Jacke mit den Knöpfen auf der Vorderseite bekamst?«
    Das kleine Mädchen nickte und blickte zufrieden an sich hinunter. An ihrer Jacke mit den großen Knöpfen konnte jeder sehen,
     dass sie bereits zu den Siebenern gehörte. Vierer, Fünfer und Sechser trugenJacken, die hinten geschlossen wurden, damit sie lernten, einander beim Anziehen zu helfen. ›Soziale Interdependenz‹ nannte
     man das.
    Die Jacke mit den Knöpfen vorne war das erste Zeichen von Unabhängigkeit, das erste sichtbare Symbol für das Erwachsenwerden.
     Das Fahrrad, das man als Neuner bekam, war ein unübersehbares Symbol dafür, dass man sich frei in der Gemeinschaft bewegen
     und sich aus dem Schoß der Familie entfernen konnte.
    Mit einer Grimasse entwand Lily sich den Händen ihrer Mutter. »Und du erfährst dieses Jahr deinen zukünftigen Beruf«, sagte
     sie bewundernd zu Jonas. »Ich hoffe, du wirst Pilot. Dann kannst du mich auf deinen Flügen mitnehmen.«
    »Aber sicher«, sagte Jonas. »Ich besorge dir auch einen Fallschirm, genau deine Größe, und dann nehme ich dich mit hinauf
     und dort – in zehntausend Meter Höhe – öffne ich die Tür und   …«
    »Jonas«, unterbrach Mutter ihn tadelnd.
    »War doch nur ein Scherz«, knurrte Jonas. »Au ßerdem will ich gar nicht Pilot werden. Wenn ich zum Piloten ernannt werde, lege ich Berufung ein.«
    »Kommt schon«, sagte Mutter ungeduldig. Sie zupfte ein letztes Mal an Lilys Haarbändern. »Jo nas ? Bist du fertig? Hast du deine Pille genommen? Ich hoffe, wir bekommen einen guten Platz im Auditorium.« Sie schob Lily vor
     sich her zur Haustür und Jonas folgte ihnen.
    Bis zum Auditorium war es nur eine kurze Fahrt. Lily winkte ihren Freundinnen und Freunden vom Kindersitz auf Mutters Fahrrad
     aus zu. Vor dem Auditorium stellte Jonas sein Rad neben dem der Mutter ab und bahnte sich auf der Suche nach seinen Altersgenossen
     einen Weg durch die Menschenmenge.
    Die gesamte Gemeinschaft nahm immer an der alljährlichen Zeremonie teil. Für die Eltern bedeutete es zwei arbeitsfreie Tage.
     Alle versammelten sich in der riesigen Halle. Die Kinder saßen zusammen in Altersgruppen und warteten mehr oder weniger geduldig,
     bis sie nacheinander auf die Bühne gerufen wurden.
    Allerdings würde Vater nicht sofort neben Mutter im Publikum sitzen. Bei der ersten Zeremonie, der Namensgebung, brachten
     die Säuglingspfleger ihre Zöglinge auf die Bühne. Von seinem erhöhten Platz aus, wo die Elfer saßen, versuchte Jonas, einen
     Blick auf seinen Vater zu erhaschen. Es war nicht schwer, die Gruppe der Säuglingspfleger in den vorderen Reihen zu entdecken.
     Das Wimmern und Weinen der Kleinen auf den Knien ihrer Pfleger war nicht zu überhören. Bei jeder anderen öffentlichen Zeremonie
     war das Publikum ruhig und aufmerksam. Doch einmal im Jahr lächelte es nachsichtig über den Aufruhr, der entstand, wenn die
     Kleinsten darauf warteten, dass sie ihren Namen erhielten und ihren Familien zugeteilt wurden.
    Jonas fing einen Blick seines Vaters auf und winkte ihm zu. Vater lächelte und winkte zurück, dann nahm er die Hand des Säuglings
     auf seinem Schoß und bewegte sie auch winkend hin und her.
    Es war nicht Gabriel. Eli war wieder im Säuglingszentrum, wo er von der Nachtschicht versorgt wurde. Das Komitee hatte ihm
     einen ungewöhnlichen und besonderen Aufschub genehmigt – ein weiteres Jahr, in dem er im Zentrum blieb, ehe er einen Namen
     und eine Familie bekommen würde. Vater hatte bei dem Komitee vorgesprochen und sich für Gabriel eingesetzt, da der Säugling
     bisher weder das nötige Gewicht erreicht hatte noch nachts durchschlief, was seine Unterbringung in einer Familieneinheit
     unmöglich machte. Normalerweise wurden solche Säuglinge als ›ungeeignet‹ eingestuft und mussten freigegeben werden.
    Doch dank Vaters Einsatz war Gabriel als ›unsi cher ‹ eingestuft worden und hatte ein weiteres Jahr genehmigt bekommen. Er würde weiterhin im Säuglingszentrum versorgt werden,
     seine Nächte jedoch bei Jonas’ Familie verbringen. Jedes Familienmitglied einschließlich Lily hatte das schriftliche Versprechen
     abgeben müssen, dass sie sich nicht an den vorübergehenden

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