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Hueter der Erinnerung

Titel: Hueter der Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lois Lowry
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kleinen Gast gewöhnen und ihn jederzeit ohne Protest oder Beschwerde
     wieder hergeben würden, wenn er bei der Zeremonie im folgenden Jahr einer anderen Familie zugesprochen werden würde.
    Aber auch nach dem nächsten Jahr würden sie ihn noch oft sehen, tröstete sich Jonas, da Gabriel schließlich in der Gemeinschaft
     bleiben würde. Wenn er freigegeben würde, natürlich nicht. Nie mehr. Diejenigen, die freigegeben wurden, auch Säuglinge, wurden
     nach
Anderswo
geschickt und kamen nie wieder zurück.
    Dieses Jahr hatte Vater keinen seiner Zöglinge nach
Anderswo
schicken müssen, und wäre der Aufschub für Gabriel nicht erteilt worden, hätte das für Vater ein Scheitern seiner Bemühungen
     dargestellt und wäre somit Grund zu Traurigkeit gewesen. Sogar Jonas, der sich längst nicht so viel mit Gabriel beschäftigte
     wie Lily, war froh, dass Eli nicht freigegeben wurde.
    Die erste Zeremonie begann pünktlich wie immer und Jonas schaute aufmerksam zu, wie ein Säugling nach dem anderen einen Namen
     erhielt und von den Pflegern seiner neuen Familie überreicht wurde. Für einige war es das erste Kind. Andere hingegen kamen
     bereits mit einem Kind auf die Bühne, das voller Stolz seinen kleinen Bruder oder seine kleine Schwester abholte, genau wie
     Jonas damals, als er ein Fünfer gewesen war.
    Asher gab Jonas einen kleinen Rippenstoß. »Weißt du noch, wie wir Philippa abholten?«, fragte er mit einem lauten Flüstern.
     Jonas nickte. Das war erst letztes Jahr gewesen. Ashers Eltern hatten lange gewartet, bis sie den Antrag auf das zweite Kind
     gestellthatten. Vielleicht hatten sie etwas Zeit gebraucht, dachte Jonas grinsend, weil sie sich erst von Ashers Albernheiten erholen
     mussten.
    Zwei ihrer Gruppe, Fiona und ein anderes Mädchen namens Thea, waren kurz abwesend, weil sie bei ihren Eltern darauf warteten,
     einen Säugling in Empfang nehmen zu dürfen. Es kam allerdings nur selten vor, dass zwischen den beiden Kindern einer Familie
     ein so großer Altersunterschied bestand.
    Sobald die feierliche Übergabe des Säuglings an seine Familie vorüber war, nahm Fiona auf dem Stuhl Platz, der von ihren Klassenkameraden
     in der Reihe vor Asher und Jonas für sie reserviert worden war. Sie wandte den Kopf und flüsterte ihnen zu: »Er ist süß. Aber
     sein Name gefällt mir nicht besonders.« Kichernd verzog sie das Gesicht. Fionas neuer Bruder hatte den Namen Bruno erhalten.
     Nun ja, dachte Jonas, das ist zwar kein toller Name wie   … na, wie eben Gabriel zum Beispiel, aber er ging doch.
    Der Applaus des Publikums, der bei jeder neuen Namensverleihung ertönte, schwoll zu einem Orkan an, als ein weiteres Elternpaar
     mit vor Stolz geröteten Gesichtern einen männlichen Säugling in die Arme schloss und alle hörten, dass er Caleb hieß.
    Dieser neue Caleb war ein Ersatzkind. Die Eltern hatten ihren ersten Caleb, einen fröhlichen Vierer, verloren. Der Verlust
     eines Kindes kam nur sehr, sehr selten vor. Das Leben in der Gemeinschaft war äußerst sicher und jeder Bürger fühlte sich
     für alle Kinderverantwortlich und beschützte sie, wenn nötig. Doch irgendwie hatte sich der erste kleine Caleb unbemerkt von allen entfernt
     und war in den Fluss gefallen. Die ganze Gemeinschaft war damals zusammengekommen, um der Verlustfeier beizuwohnen und einen
     ganzen Tag lang den Namen Caleb zu murmeln. Im Laufe der langen, düsteren Stunden immer weniger häufig, immer leiser, bis
     das Bild des kleinen Vierers nach und nach verblasste und schließlich ganz sachte und allmählich aus dem Bewusstsein aller
     verschwand.
    Jetzt, bei dieser besonderen Namensgebung, sprach die Gemeinschaft das kurze, feierliche Murmeln des Ersatzes, die erstmalige
     neue Erwähnung dieses Namens seit dem Verlust. Zuerst ganz langsam und leise, dann immer schneller und lauter, während das
     Elternpaar mit dem schlafenden Säugling im Arm auf der Bühne stand. Es war, als wäre der erste Caleb wiedergekommen.
    Der nächste Säugling erhielt den Namen Roberto und Jonas dachte an Roberto, den Alten, den die Gemeinschaft erst letzte Woche
     freigegeben hatte. Aber es gab kein feierliches Murmeln des Ersatzes für den neuen Roberto. Das altersbedingte Freigeben eines
     Mitglieds der Gemeinschaft war etwas ganz anderes als ein Verlust.
    Pflichtbewusst und ruhig verfolgte Jonas danach die Zeremonien der Zweier, Dreier und Vierer und er fand sie wie jedes Jahr
     ziemlich langweilig. Dannendlich kam die Pause für das Mittagsmahl,

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