Hueter der Erinnerung
Erinnerst du dich noch, Asher?«
Asher nickte reumütig, was das Publikum erneut zum Lachen brachte, auch Jonas. Er konnte sich noch gut daran erinnern, obwohl
er selbst damals auch erst ein Dreier gewesen war.
Kleinere Kinder wurden mit Hieben mit der Rute bestraft: einem dünnen, biegsamen Stöckchen. Damit ausgeführte Schläge konnten
recht schmerzhaft sein. Die Lehrer wurden sehr sorgfältig für diese Disziplinierungsmethode ausgebildet: ein schneller Hieb
über die Handfläche für ein geringfügiges Vergehen, drei stärkere Hiebe auf die nackten Beine im Wiederholungsfalle.
Der arme Asher, der immer zu schnell redete und oft Wörter verwechselte, schon als Kleinkind! AlsDreier konnte er es immer nicht erwarten, während der Pausen seinen Saft und seine Cracker zu bekommen, und eines Tages sagte
er, als er an der Reihe war, ungeduldig: »Hieb«, obwohl er vermutlich »gib« hatte sagen wollen.
Jonas konnte sich noch sehr gut daran erinnern. Er sah den kleinen Asher vor sich, der zappelig in der Schlange stand und
hungrig »Hieb!« rief, als er endlich an der Reihe war.
Die anderen Dreier, einschließlich Jonas, hatten nervös gekichert. »Das heißt nicht ›Hieb‹, Asher«, versuchten sie, ihn zu
korrigieren, »du wolltest sicher ›gib‹ sagen.« Aber da war der Fehler bereits passiert. Spracherziehung war bei Kindern in
diesem Alter von größter Wichtigkeit. Und Asher hatte einen Hieb verlangt.
Die Rute in der Hand des Lehrers zischte bedrohlich, als sie durch die Luft fuhr, ehe sie auf Ashers Handflächen aufklatschte.
Asher zuckte zusammen und wimmerte, doch sofort verbesserte er sich: »Ich wollte ›gib‹ sagen«, flüsterte er.
Am nächsten Morgen war ihm dasselbe Missgeschick erneut unterlaufen. Und in der folgenden Woche noch einmal. Offensichtlich
konnte er es sich einfach nicht abgewöhnen, obwohl die Anzahl der Rutenhiebe jedes Mal erhöht wurde und sich schließlich schmerzhafte
Striemen quer über Ashers Beinchen abzeichneten. Für eine Weile hatte Asher ganz zu sprechen aufgehört.
»Ein paar Wochen lang hatten wir einen stummen Asher«, erklärte die Chefälteste, als sie diese Episode erzählte. »Aber er
hat daraus gelernt.«
Sie schenkte ihm ein freundliches Lächeln. »Als er wieder zu sprechen begann, ging er sehr viel sorgfältiger mit seiner Sprache
um. Inzwischen unterläuft ihm nur noch hie und da ein Fehler. Und er korrigiert und entschuldigt sich auch immer prompt. Seine
stets gute Laune ist fast sprichwörtlich.« Die Zuschauer murmelten zustimmend. Ashers Fröhlichkeit war allgemein bekannt.
»Asher.« Die Chefälteste hob den Kopf, um die offizielle Verkündigung zu machen. »Wir ernennen dich zum Assistenten des Direktors
für Spiel und Sport.«
Sie befestigte das Abzeichen mit seiner neuen Berufsbezeichnung an seiner Brust. Als er sich strahlend bedankt hatte und die
Bühne wieder verließ, klatschten alle begeistert. Sobald er wieder Platz genommen hatte, blickte die Chefälteste von der Bühne
auf ihn herab und sagte die Worte, die sie nunmehr zum vierten Mal aussprach und zu jedem neuen Zwölfer sagte. Es gelang ihr
dabei immer, ihnen einen besonderen Nachdruck zu verleihen.
»Asher«, sagte sie, »wir danken dir für deine Kindheit.«
Die Zuteilung der Aufgaben ging weiter und Jonas schaute und hörte zu, froh darüber, welch passende, interessante Aufgabe
sein bester Freund erhaltenhatte. Doch je näher die Reihe an ihn kam, desto ängstlicher und besorgter wurde er. Inzwischen hatten alle neuen Zwölfer
in der Reihe vor ihm ihre Berufsschildchen bekommen. Sie betasteten sie, nachdem sie wieder Platz genommen hatten, und Jonas
ahnte, dass sie alle versuchten, sich das Training auszumalen, das ihnen bevorstand. Einige – ein sehr lernbegieriger Junge
würde Arzt werden, ein Mädchen Ingenieurin und ein anderes Juristin – hatten lange Jahre des Studiums vor sich. Vor anderen,
die Arbeiter oder Gebärerin wurden, lag nur eine kurze Ausbildungszeit.
Nummer achtzehn, Fiona, die links von ihm saß, wurde aufgerufen. Jonas war sicher, dass sie nervös war, aber Fiona wirkte
ruhig und gelassen wie immer. Sie hatte die ganze Zeremonie über heiter und unbeschwert neben ihm gesessen.
Nach Fionas Bestimmung zur Altenpflegerin wirkte selbst der begeisterte Applaus irgendwie unbeschwert. Für diese wichtige
Aufgabe war Fiona wie geschaffen, feinfühlig und sanft, wie sie war. Mit einem zufriedenen Lächeln
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