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Hueter der Erinnerung

Titel: Hueter der Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lois Lowry
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verließ sie die Bühne und
     setzte sich wieder neben Jonas.
     
    Jonas bereitete sich innerlich darauf vor aufzuspringen, sobald der Applaus enden und die Chefälteste das nächste Blatt in
     die Hand nehmen würde, um den nächsten Zwölfer auf die Bühne zu rufen. Das würde er sein. Jetzt, da er gleich an der Reihe
     war,war Jonas erstaunlich ruhig. Er holte tief Luft und strich sich über das Haar.
    »Nummer zwanzig«, hörte er ihre Stimme laut und deutlich. »Pierre.«
    Sie hat mich übersprungen
, dachte Jonas bestürzt. Hatte er sich verhört? Nein. Ein Raunen ging durch das Publikum und Jonas sah, dass die ganze Gemeinschaft
     bemerkt hatte, dass die Chefälteste von achtzehn zu zwanzig gesprungen war und eine Nummer übergangen hatte. Pierre, zu seiner
     Rechten, warf ihm einen verwunderten Blick zu, erhob sich dann aber von seinem Platz und ging zur Bühne.
    Ein Irrtum! Ihr war ein Irrtum unterlaufen! Aber Jonas wusste ganz genau, schon als ihm dieser Gedanke durch den Kopf schoss,
     dass das einfach unmöglich war. Die Chefälteste machte keinen Fehler. Nicht bei der Zwölfer-Zeremonie.
    Sein Kopf drehte sich und er konnte nicht mehr richtig denken. Welche Aufgabe Pierre bekam, entging ihm völlig und er hörte
     nur undeutlich den Applaus, als der Junge mit seinem neuen Berufsschildchen zurückkam. Dann: Einundzwanzig. Zweiundzwanzig.
    Die Nummern wurden der Reihe nach verlesen. Wie betäubt saß Jonas da, als die Dreißiger und Vierziger auf die Bühne gingen.
     Bald würde die Zeremonie vorüber sein. Bei jedem neuen Aufruf machte sein Herz einen kleinen Sprung und ein Fünkchen Hoffnung
     glomm in ihm auf. Vielleichtwürde sie ihn jetzt aufrufen. Aber vielleicht hatte er selbst seine Nummer vergessen? Nein. Er war immer neunzehn gewesen.
     Auch auf seinem Stuhl stand ganz deutlich
neunzehn
geschrieben.
    Aber sie hatte ihn ausgelassen. Er spürte, dass seine Altersgenossen ihm fragende, verlegene Blicke zuwarfen und dann schnell
     wieder zur Seite blickten. Auf der Stirn des Gruppenleiters hatte sich eine tiefe Falte gebildet.
    Jonas krümmte die Schultern und rutschte tiefer in seinen Sitz. Er wünschte, die Erde würde sich unter ihm auftun und ihn
     verschlingen. Wie konnte er seinen Eltern nach dieser Blamage jemals wieder unter die Augen treten? Ihre besorgten, verwirrten
     Blicke würde er nicht ertragen.
    Jonas ließ den Kopf hängen und zermarterte sich das Gehirn.
Was hatte er falsch gemacht?

8
    Die Unruhe im Publikum wurde immer deutlicher. Bei der letzten Berufsvergabe klatschten die Zuschauer zwar auch höflich, allerdings nur schubweise und nicht
     wie zuvor in einem anschwellenden Crescendo. Es wurde getuschelt.
    Auch Jonas’ Hände klatschten gegeneinander, aber es war eine automatische, bedeutungslose Geste, die er nicht bewusst registrierte.
     All seine früheren Gefühle – die Spannung, Aufregung, der Stolz und selbst das vertraute Gefühl der Nähe zu seinen Altersgenossen
     – waren aus seinem Kopf verbannt. Er fühlte nichts anderes mehr als Demütigung und Entsetzen.
    Die Chefälteste wartete, bis der nervöse Applaus sich gelegt hatte. Dann ergriff sie erneut das Wort.
    »Ich weiß«, sagte sie mit freundlicher, wohlklingender Stimme, »dass ihr alle in Sorge seid. Dass ihr glaubt, mir sei ein
     Irrtum unterlaufen.«
    Sie lächelte. Erleichtert darüber, dass sie endlich darauf zu sprechen kam, legte sich die Unruhe unter den Zuschauern, die
     nun wieder etwas freier zu atmen schienen. Plötzlich war kein Mucks mehr zu hören.
    Erwartungsvoll und noch etwas ungläubig hob Jonas den Kopf.
    »Ich habe euch in große Verwirrung gestürzt«,sagte sie. »Dafür entschuldige ich mich bei meiner Gemeinschaft.« Wie ein weicher Schleier legte sich der Klang ihrer Stimme
     über die Zuschauer im Auditorium.
    »Wir nehmen die Entschuldigung an«, antwortete das Publikum wie aus einem Munde.
    »Jonas«, sagte die Chefälteste und blickte ihn nun direkt an. »Ich entschuldige mich besonders bei dir. Ich kann mir vorstellen,
     wie du dich fühlen musstest.«
    »Ich nehme die Entschuldigung an«, antwortete Jonas mit brüchiger Stimme.
    »Bitte komm nun auf die Bühne.«
    Am Morgen hatte er in seinem Zimmer den lässigen, selbstsicheren Gang geübt, mit dem er die Bühne betreten wollte, wenn seine
     Nummer aufgerufen wurde. All das war jetzt vergessen. Es kostete ihn eine unendliche Mühe, sich zu erheben und seine Füße
     zu bewegen, die sich bleischwer und ungelenk anfühlten,

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