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Hueter der Erinnerung

Titel: Hueter der Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lois Lowry
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während er über die Bühne ging, bis er vor der Chefältesten stand.
    Beruhigend legte sie ihm den Arm um seine verkrampften Schultern.
    »Jonas wurde nicht ernannt«, informierte sie die Menschenmenge und sein Herz sank ihm in die Kniekehlen.
    Die Chefälteste fuhr fort. »Jonas wurde
auserwählt

    Er kniff die Augen zusammen. Was hatte das zubedeuten? Er spürte, dass auch das Publikum nicht begriffen hatte. Es wurde erneut unruhig.
    Mit fester, ruhiger Stimme verkündete die Chefälteste: »Jonas ist dazu ausersehen worden, unser nächster Hüter der Erinnerungen
     zu werden.«
    Man konnte förmlich hören, wie die Zuschauer die Luft anhielten – das gemeinsame, plötzliche, tiefe, erstaunte Einsaugen der
     Luft. Jonas sah ihre Gesichter mit den vor Ehrfurcht aufgerissenen Augen.
    Aber er verstand noch immer nicht.
    »Eine solche Erwählung ist sehr, sehr selten«, teilte die Chefälteste den Anwesenden mit. »Unsere Gemeinschaft hat nur einen
     Hüter. Er ist es, der seinen Nachfolger ausbilden wird.«
    »Unseren jetzigen Hüter haben wir bereits seit sehr langer Zeit«, fuhr sie fort. Jonas folgte ihrem Blick und sah, dass sie
     einen der Ältesten fixierte. Das Komitee der Ältesten saß an einem langen Pult und die Augen der Chefältesten ruhten nun auf
     einem Mann, der zwar in ihrer Mitte saß, aber doch auf seltsame Weise fern von ihnen schien. Es war ein Mann, der Jonas schon
     früher aufgefallen war, ein bärtiger Mann mit hellen Augen. Er blickte Jonas unverwandt an.
    »Bei unserer letzten Erwählung haben wir versagt«, sprach die Chefälteste mit feierlicher Stimme weiter. »Das war vor zehn
     Jahren, als Jonas noch ein Kleinkind war. Aber ich will nicht näher auf diesenunerfreulichen Vorfall eingehen, denn er schmerzt uns alle noch immer.«
    Jonas hatte keine Ahnung, was sie meinte, aber er spürte die Beklemmung unter den Zuschauern. Unruhig rutschten sie auf ihren
     Stühlen hin und her.
    »Dieses Mal haben wir uns viel Zeit gelassen«, fuhr sie fort. »Wir konnten uns keinen zweiten Fehlgriff leisten.
    Manchmal, selbst nach sehr ausführlichen, gewissenhaften Beobachtungen«, fuhr sie in einem beschwingteren Ton fort, der sofort
     dazu beitrug, die Stimmung im Publikum wieder zu heben, »sind wir uns nicht ganz sicher, ob wir bei der Berufswahl die richtigen
     Entscheidungen getroffen haben. Manchmal machen wir uns Sorgen, dass jemand im Laufe seiner Ausbildung vielleicht doch nicht
     die nötigen Fähigkeiten erwerben könnte. Elfer sind schließlich immer noch Kinder. Was wir vielleicht als Verspieltheit und
     Geduld ansehen – die nötigen Voraussetzungen, um Säuglingspfleger zu werden   –, entpuppt sich in späteren Jahren möglicherweise als schlichte Einfalt und Trägheit.
    Deshalb beobachten wir alle Kandidaten auch während der Ausbildung, um notfalls korrigierend eingreifen zu können.
    Der zukünftige Hüter der Erinnerungen kann jedoch nicht beobachtet werden und folglich können wir auch nicht mehr korrigierend
     eingreifen. Das steht klar und deutlich in den Regeln. Allein und invölliger Isolation von den anderen wird er vom alten Hüter für die Aufgabe vorbereitet, die als die ehrenvollste in unserer
     Gemeinschaft gilt.«
    Allein? Isoliert? Jonas wurde es immer unbehaglicher zumute.
    »Die Ernennung zum neuen Hüter muss deshalb hieb- und stichfest sein. Das Komitee muss die Wahl einstimmig annehmen. Es darf
     nicht der leiseste Zweifel bestehen. Wenn ein Ältester während des Entscheidungsprozesses einen Traum hat, in dem Zweifel
     zum Ausdruck kommen, wird ein möglicher Kandidat sofort fallen gelassen. Jonas wurde bereits vor mehreren Jahren für diese
     Aufgabe ins Auge gefasst. Wir haben ihn äußerst gewissenhaft und eindringlich beobachtet. Es gab keine Träume, die Unsicherheiten
     über seine Wahl zum Ausdruck gebracht hätten. Es zeigte sich, dass er über alle Qualitäten verfügt, die der Hüter der Erinnerungen
     besitzen muss.«
    Die Hand noch immer auf Jonas’ Schulter gelegt, zählte sie diese Eigenschaften auf.
    »Intelligenz«
, sagte sie. »Wir wissen alle, dass Jonas stets ein Musterschüler war.
    »Unbescholtenheit«
, nannte sie als Nächstes. »Wie wir alle wissen, hat auch Jonas sich kleinerer Regelverstöße schuldig gemacht.« Verständnisvoll
     lächelte sie ihm zu. »Damit haben wir natürlich gerechnet. Wir haben jedoch auch gehofft, dass er das umgehend einsehen würde,
     und das war stets der Fall.«
    »Tapferkeit«
, fuhr sie fort.

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