Hueter der Erinnerung
»Nur ein Einziger unter uns hat sich je der schwierigen Ausbildung zum Hüter der Erinnerungen ausgesetzt.
Selbstverständlich ist er das wichtigste Mitglied unseres Komitees: der gegenwärtige Hüter. Er war es, der uns immer wieder
zu bedenken gab, wie viel Tapferkeit es erfordert, dieser Ausbildung standzuhalten.«
Die Chefälteste wandte sich wieder direkt an Jonas, sprach aber so laut, dass die ganze Gemeinschaft sie hören konnte. »Jonas,
deine Ausbildung wird manchmal sehr schmerzhaft sein. Körperlich schmerzhaft.«
Ein Gefühl der Angst bemächtigte sich Jonas’.
»Das hast du noch nie kennengelernt. Ja, du hast dir zwar einige Male das Knie aufgeschürft, als du vom Rad gefallen bist.
Du hast dir letztes Jahr einen Finger in der Tür eingeklemmt.«
Jonas nickte zustimmend, als er an jenen Unfall und die anfänglich schlimmen Schmerzen zurückdachte.
»Im Laufe deiner Ausbildung«, erklärte sie weiter, »wirst du jedoch Schmerzen in einem Ausmaß erleiden, die weit über unser
aller Vorstellungsvermögen hinausgehen. Der Hüter selbst ist nicht in der Lage, sie zu beschreiben. Er teilte dem Komitee
lediglich mit, dass du unweigerlich damit konfrontiert werden würdest und dass du folglich unendlich tapfer sein musst. Darauf
können wir dich jedoch leider nicht vorbereiten.« Sie machte eine kurze Pause.»Aber wir sind davon überzeugt, dass du sehr tapfer bist«, sagte sie zuversichtlich.
Jonas fühlte sich nicht tapfer. Ganz und gar nicht.
»Die vierte wichtige Eigenschaft«, sprach die Chefälteste weiter, »ist
Weisheit.
Die kann Jonas natürlich noch nicht besitzen. Er wird sie jedoch im Laufe seiner Ausbildung erwerben.
Wir sind davon überzeugt, dass Jonas alle Fähigkeiten mitbringt, um große Weisheit zu erlangen. Darauf haben wir sehr sorgfältig
geachtet.
Außerdem muss der Hüter noch eine weitere Eigenschaft besitzen, die ich zwar nennen, aber nicht beschreiben kann. Ich verstehe
sie nicht. Auch die Mitglieder des Komitees verstehen sie nicht. Vielleicht versteht Jonas sie, denn der Hüter hat uns gesagt,
dass Jonas diese Fähigkeit besitzt. Er nennt sie ›Über-die-Dinge-Hinaussehen‹.«
Die Chefälteste blickte Jonas fragend an. Auch die Zuschauer hingen wie gebannt an seinen Lippen. Ein erwartungsvolles Schweigen
lag über dem Auditorium.
Für einen Augenblick stand Jonas stocksteif da. Eine große Verzweiflung bemächtigte sich seiner. Er hatte es nicht, das, was
immer sie gesagt hatte. Er wusste nicht einmal, was sie meinte.
Jetzt wäre der richtige Moment, es zu gestehen und einfach zu sagen: »Nein, das habe ich nicht. Ich kann es nicht.« Er müsste
sich nur auf die Knie werfen,die Mitglieder des Komitees um Vergebung bitten und erklären, dass alles ein großer Irrtum war, dass er ganz und gar nicht
der Richtige für diese Aufgabe war.
Doch als sein Blick über die Reihen der Zuschauer wanderte, über das Meer ihrer Gesichter, passierte es wieder. Genau wie
damals mit dem Apfel.
Sie
veränderten
sich.
Er kniff die Augen zusammen und schon war alles vorbei. Er reckte die Schultern. Zum ersten Mal spürte er einen kurzen, leisen
Schauer der Gewissheit.
Die Chefälteste beobachtete ihn noch immer. Die Zuschauer auch.
»Ich glaube, es stimmt«, sagte er zu ihr und zu den Zuschauern. »Ich verstehe es ja selbst auch noch nicht recht. Ich weiß
nicht, was es ist. Aber manchmal sehe ich etwas. Und vielleicht ist es das ›Über -die-Dinge-Hinaussehen ‹.«
Sie nahm die Hand von seiner Schulter.
»Jonas«, sagte sie feierlich, nicht nur zu ihm, sondern zur ganzen Gemeinschaft, der auch er angehörte, »du wirst dazu ausgebildet
werden, der nächste Hüter unserer Erinnerungen zu sein. Wir danken dir für deine Kindheit.«
Sie wandte sich um und verließ die Bühne, ließ ihn einfach allein dort stehen, vor den vielen Reihen der Zuschauer, die nun
begannen, seinen Namen zu sprechen.
»Jonas.« Zuerst war es nur ein Flüstern, leise, kaum hörbar. »Jonas. Jonas.«
Dann wurde es lauter, schneller.
»Jonas. Jonas. Jonas.«
Mit dieser Litanei, das wusste Jonas, nahm die Gemeinschaft seine Wahl an, akzeptierte ihn in seiner neuen Rolle, verlieh
ihr Leben, genau wie sie es bei dem Säugling Caleb auch getan hatte.
Sein Herz füllte sich mit Dankbarkeit und Stolz.
Aber gleichzeitig hatte er auch Angst. Er wusste nicht, was diese Wahl für ihn bedeutete. Er wusste nicht, was aus ihm werden
würde.
Oder was auf ihn zukam.
9
Zum
Weitere Kostenlose Bücher