Hueter der Erinnerung
drein. »Ich wünschte, sie würden das nicht tun«, sagte er sehr ruhig, mehr zu sich selbst.
»Aber wir können doch nicht zwei genau identische Bürger in unserer Gemeinschaft haben! Stellt Euch vor, wie verwirrend das
wäre!«, gab Jonas grinsend zu bedenken.
»Ich hätte gerne dabei zugesehen«, fügte er hinzu. Ihm gefiel der Gedanke, dabei zuzusehen, wie sein Vater den kleinen Zwilling
wusch, wickelte und fütterte und ihm eine schöne Abschiedsfeier bereitete. Sein Vater war ein so gutmütiger, sanfter Mann.
»Du kannst es sehen«, sagte der Geber.
»Nein.« Jonas schüttelte den Kopf. »Sie lassen Kinder nicht zusehen. Es ist eine geschlossene Veranstaltung.«
»Jonas«, belehrte ihn der Geber, »ich weiß, dass du deine Anweisungen sehr sorgfältig durchgelesen hast. Erinnerst du dich
nicht daran, dass dir alles erlaubt ist?«
Jonas nickte. »Ja, aber …«
»Jonas, wenn deine Ausbildung abgeschlossen ist, wirst du der neue Hüter sein. Du darfst alle Bücher lesen und trägst alle
Erinnerungen in dir. Du hast zu
allem
Zugang. Das gehört zu deiner Ausbildung. Wenn du eine Abschiedsfeier sehen möchtest, brauchst du nur danach zu fragen.«
Jonas zuckte mit den Schultern. »Na schön, dann mache ich es. Aber für die des Zwillings ist es bereits zu spät. Ich bin sicher,
dass die Abschiedszeremonie bereits heute früh stattfand.«
Was der Geber ihm darauf antwortete, war völlig neu für ihn. »Alle Zeremonien, die hinter geschlossener Tür stattfinden, werden
aufgezeichnet. Die Videos werden im Saal der geschlossenen Bücher aufbewahrt. Möchtest du die Abschiedsfeier von heute Morgen
sehen?«
Jonas zögerte. Es wäre seinem Vater bestimmt nicht recht, dass man ihn bei einer so privaten Zeremonie beobachtete.
»Ich bin der Meinung, du solltest es tun«, sagte der Geber mit Nachdruck.
»In Ordnung«, sagte Jonas. »Was muss ich tun?«
Der Geber erhob sich von seinem Stuhl, ging zur Sprech- und Abhöranlage an der Wand und ließ den Schalter von
Aus
nach
An
schnappen.
Die Stimme meldete sich sofort. »Ja, Hüter der Erinnerungen. Womit kann ich dienen?«
»Ich möchte die Abschiedsfeier des kleinen Zwillings von heute Morgen sehen.«
»Einen Moment, Hüter. Vielen Dank für Eure Anweisung.«
Gespannt blickte Jonas auf den Bildschirm oberhalb der Schalterreihe. Die bisher leere Fläche überzog sich mit Zickzacklinien.
Eine Nummer erschien und gleich darauf Datum und Uhrzeit. Jonas fand es erstaunlich und aufregend, dass ihm diese Möglichkeit
offenstand, und er war überrascht, dass er das bisher nicht gewusst hatte.
Plötzlich sah er auf dem Bildschirm einen kleinen, fensterlosen Raum mit einem hellen Teppichboden, in dem nur ein Schrank,
ein Bett und ein Tisch standen. Auf dem Tisch lagen einige Sachen, die man zur Säuglingspflege brauchte – Jonas entdeckte
auch eine Waage. Diese Sachen hatte er schon gesehen, damals, als er im Säuglingszentrum einige Praktikumsstunden abgeleistet
hatte. »Das ist ja nur ein ganz gewöhnlicher Raum«, kommentierte er enttäuscht. »Ich habe gedacht, die Feier würde vielleicht
im Auditorium stattfinden, damit alle Interessierten kommen könnten. Bei Abschiedsfeiern im Altenzentrumnehmen alle Bewohner teil. Aber vielleicht ist es bei Neugeborenen nicht so aufwändig …«
»Pst«, sagte der Geber, die Augen auf den Bildschirm geheftet.
Jonas’ Vater, in seine Pflegeruniform gekleidet, betrat den kleinen Raum. Er trug ein winziges Neugeborenes im Arm, das in
eine weiche Decke gehüllt war. Ihm folgte eine weitere Pflegerin, die ebenfalls ein eingewickeltes Kind im Arm trug.
»Das ist mein Vater.« Jonas bemerkte, dass er flüsterte, als befürchte er, er könne die winzigen Babys wecken, wenn er laut
spräche. »Die Pflegerin ist seine Assistentin. Sie ist noch in der Ausbildung, aber bald ist sie fertig.«
Die beiden Pfleger schälten die genau gleich aussehenden Winzlinge aus ihren Decken und legten sie nebeneinander auf das Bett.
Sie waren beide nackt. Jonas konnte sehen, dass es zwei Jungen waren.
Gebannt beobachtete er, wie sein Vater zuerst das eine, dann das andere Neugeborene nahm und auf die Waage legte.
Er hörte seinen Vater auflachen. »Gut«, sagte sein Vater zu seiner Assistentin. »Ich habe schon befürchtet, die beiden könnten
eventuell genau gleich schwer sein. Das wäre kompliziert geworden! Aber dieser hier«, er händigte eines der Babys seiner Assistentin
aus, nachdem er es wieder in
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