Hueter der Erinnerung
ich das Ganze sehen konnte. Ich sah sie da sitzen – es
war mein letzter Blick auf dieses schöne Kind – und warten. Sie brachten ihr die Spritze und baten sie, den Ärmel aufzurollen.
Du hast mich gefragt, ob sie vielleicht nicht tapfer genug war? Nun, ich weiß nicht, was Tapferkeit ist, was dieser Begriff
bedeutet. Ich weiß nur, dass ich hier saß, vor Entsetzen wie gelähmt. Erbärmlich in meiner Hilflosigkeit und Ohnmacht. Und
ich musste mit anhören, wie Rosemary zu ihnen sagte, sie würde sich die Spritze lieber selbst geben. Das tat sie dann auch.
Ich habe nicht hingesehen, ich habe weggeschaut.«
Der Geber hob erneut den Kopf. »So, nun weißt du Bescheid, Jonas. Du wolltest wissen, was es mit dem Freigeben auf sich hat«,
sagte er in einem bitteren Ton.
Jonas hatte das Gefühl, das Herz würde ihm im Leibe zerspringen. Das Entsetzen, das ihm den Atem raubte, bahnte sich einen
Weg und äußerte sich in einem lauten Schrei.
20
»Nein! Ich gehe nicht nach Hause! Ihr könnt mich nicht dazu zwingen!« Jonas schluchzte und schrie und bearbeitete das Bett mit beiden Fäusten.
»Setz dich auf, Jonas«, sagte der Geber mit ruhiger, fester Stimme.
Jonas gehorchte ihm. Tränenüberströmt und mit bebenden Schultern setzte er sich auf die Bettkante. Er blickte dem Geber nicht
in die Augen.
»Du kannst heute Nacht hierbleiben. Wir müssen reden. Aber jetzt musst du ganz still sein, weil ich deine Familie benachrichtigen
lassen muss. Man darf dich nicht weinen hören.«
Anklagend blickte Jonas auf. »Den kleinen Zwilling hat auch niemand weinen hören! Niemand außer meinem Vater!« Wieder wurde
er von haltlosem Schluchzen geschüttelt.
Der Geber wartete schweigend. Nach einer Weile hatte Jonas sich einigermaßen in der Gewalt und saß zusammengekauert und nur
noch leise schluchzend da.
Der Geber ging an die Sprechanlage an der Wand und stellte den Schalter auf
An
.
»Ja, Hüter der Erinnerungen. Womit kann ich Ihnen dienen?«
»Bitte teile der Familie des zukünftigen Hütersmit, dass er aus Gründen seiner Ausbildung heute Nacht hierbleiben wird.«
»Das werde ich tun, Sir. Vielen Dank für Eure Anweisung«, sagte die monotone Stimme.
»Das werde ich tun, Sir! Das werde ich tun, Sir!«, äffte Jonas die Stimme gehässig nach. »Ich werde tun, was immer Ihr auch
wünscht, Sir. Ich werde Leute töten, Sir. Alte Leute? Kleine, ungeborene Kinder? Es wird mir ein Vergnügen sein, sie zu töten,
Sir. Vielen Dank für Eure Anweisung, Sir. Womit kann ich dienen?« Jonas schien nicht mehr aufhören zu können.
Der Geber packte ihn an den Schultern. Jonas verstummte und starrte ihn an.
»Hör mir zu, Jonas. Sie können nicht anders handeln.
Sie wissen von nichts.
«
»Das habt Ihr schon einmal gesagt.«
»Ich sagte es, weil es wahr ist. Das ist ihre Art zu leben. Sie leben das Leben, das ihnen bestimmt wurde. Wenn du nicht zu
meinem Nachfolger ernannt worden wärst, würdest du genauso leben wie sie.«
»Aber er hat mich
belogen
!«, stammelte Jonas.
»Er hat dir gesagt, was ihm gesagt worden ist, und er weiß es nicht besser.«
»Und was ist mit Euch? Habt
Ihr
mich ebenfalls belogen?« Jonas spuckte dem Geber diese Frage fast ins Gesicht.
»Es ist mir erlaubt zu lügen. Aber ich habe dich noch nie belogen.«
Jonas starrte ihn an. »Ist es immer so, wenn jemand freigegeben wird? Leute, die drei Mal gegen die Regeln verstoßen? Die
Alten? Werden auch die Alten getötet?«
»Ja.«
»Und was ist mit Fiona? Sie liebt die alten Menschen! Sie macht gerade ihre Ausbildung zur Altenpflegerin. Weiß sie es schon?
Was wird sie tun, wenn sie das erfährt? Was wird sie empfinden?« Mit dem Handrücken wischte sich Jonas eine Träne aus dem
Gesicht.
»Fiona wird bereits in der hohen Kunst des Freigebens ausgebildet«, sagte der Geber unbeeindruckt. »Sie macht ihre Sache sehr
gut, deine rothaarige Freundin. Gefühle gehören nicht zu den Dingen, in denen sie ausgebildet wird.«
Jonas schlang die Arme um seine Schultern und wiegte sich ratlos hin und her. »Was soll ich tun? Ich kann nicht mehr nach
Hause gehen. Ich kann es nicht!«
Der Geber erhob sich. »Als Erstes werde ich unser Abendessen bestellen. Dann werden wir essen.«
»Aha, und danach machen wir eine Gefühlsaussprache, oder?« Jonas bemerkte, dass er immer noch in diesem gehässigen, sarkastischen
Ton sprach.
Der Geber lachte wehmütig auf. »Jonas, du und ich sind die Einzigen, die Gefühle haben. Und seit
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