Hueter der Erinnerung
die Decke gehüllt hatte, »wiegt genau sechs Pfund. Du kannst ihn also waschen,anziehen und in die Neugeborenenabteilung bringen.«
Die junge Frau nahm das Baby in die Arme und verließ den Raum durch die Tür, durch die sie gekommen war.
Jonas sah, wie sein Vater sich über den anderen sich windenden Winzling beugte. »Und du, mein Kleiner, wiegst nur fünf Pfund
zweihundert Gramm. Du bist ein richtiger Knirps!«
»In diesem Ton redet er auch mit Gabriel«, stellte Jonas schmunzelnd fest.
»Sieh genau hin!«, mahnte ihn der Geber.
»Jetzt wäscht und versorgt er ihn«, sagte Jonas in wissendem Ton. »Das hat er mir gesagt.«
»Sei ruhig, Jonas«, befahl der Geber in einem seltsamen, strengen Ton.
»Sieh genau hin!«
Gehorsam konzentrierte sich Jonas wieder auf den Bildschirm und wartete, was als Nächstes passieren würde. Besonders auf die
Zeremonie war er sehr gespannt.
Sein Vater wandte sich um und öffnete den Schrank. Er nahm eine Spritze und ein kleines Fläschchen heraus. Sehr sorgsam führte
er die Nadel in die Flasche ein und begann, die Spritze mit der klaren Flüssigkeit zu füllen.
Mitfühlend zuckte Jonas zusammen. Er hatte vergessen, dass Neugeborene Spritzen bekamen. Er selbst fürchtete sich vor Spritzen,
aber er wusste natürlich, dass sie unerlässlich waren.
Zu seiner Überraschung richtete sein Vater die Spitze der Nadel auf die Stirn des Neugeborenen, genau auf die Stelle, an der
die dünne Haut pulsierte. Der Neugeborene wand sich und wimmerte kläglich.
»Warum tut er …«
»Pst!«, sagte der Geber scharf.
Jonas’ Vater redete auf das winzige Wesen ein und Jonas begriff, dass er die Antwort auf die Frage hörte, die er soeben hatte
stellen wollen. Noch immer in seinem Singsang sagte er: »Ich weiß, ich weiß. Es tut weh, mein Kerlchen. Aber ich muss eine
Vene nehmen und die Venen in deinem Ärmchen sind noch zu winne-winzig.«
Ganz langsam drückte er den Kolben herunter und injizierte dabei die Flüssigkeit direkt in die Stirnvene, bis die Spritze
leer war.
»Fertig. War doch gar nicht so schlimm, oder?«, hörte Jonas seinen Vater fröhlich sagen. Er wandte sich ab und warf die Spritze
in den Abfallkorb.
Jetzt wird er das Neugeborene doch hoffentlich endlich waschen und füttern, dachte Jonas im Stillen, denn er hatte bemerkt,
dass der Geber während der Abschiedsfeier offensichtlich nicht sprechen wollte.
Während er sich weiterhin auf das Geschehen auf dem Bildschirm konzentrierte, stellte er überrascht fest, dass das Baby nicht
mehr schrie und sich auch nicht mehr regte. Es wurde ganz schlaff. Sein Köpfchenfiel zur Seite, die Augenlider halb geöffnet. Dann war es still.
Jonas’ Unterkiefer fiel herab. Diese Bewegungen, diese Stellung und diesen Gesichtsausdruck hatte er doch schon einmal gesehen!
Doch wo? Es fiel ihm im Moment nicht ein.
Jonas starrte auf den Bildschirm und hoffte, dass endlich etwas geschehen würde. Doch er hoffte vergeblich. Der kleine Zwilling
lag reglos da. Sein Vater räumte die Sachen weg. Faltete die Decke zusammen. Schloss die Schranktür.
Doch dann, genau wie neulich auf dem Spielplatz, hatte Jonas das Gefühl, gleich ersticken zu müssen. Vor seinem geistigen
Auge tauchte das Bild des blonden, blutenden jungen Soldaten auf. Der Ausdruck auf seinem Gesicht im Augenblick seines Todes!
Die Erinnerung kehrte zurück.
»Er hat es getötet! Mein Vater hat das Baby getötet!«, stammelte Jonas fassungslos. Er begriff das nicht. Wie versteinert
starrte er auf den Bildschirm.
Sein Vater räumte das Zimmer auf. Dann nahm er den kleinen Karton, der auf dem Boden stand, stellte ihn auf das Bett und legte
das schlaffe, leblose Körperchen hinein. Er verschloss den Karton mit einem Deckel.
Dann nahm er den geschlossenen Karton, trug ihn auf die andere Seite des Raums und öffnete eine kleine Tür. Jonas sah, dass
es hinter dieser Tür dunkelwar. Es schien sich um dieselbe Art von Müllschlucker zu handeln wie jener, in den in der Schule die Abfälle geworfen wurden.
Sein Vater stellte den Karton mit dem Baby auf die Klappe des Müllschluckers und gab ihm einen leichten Schubs.
»Adieu, kleines Kerlchen«, hörte Jonas seinen Vater sagen, bevor er den Raum verließ. Dann wurde der Bildschirm leer und weiß.
Der Geber wandte Jonas den Kopf zu. Mit einer erstaunlichen Ruhe berichtete er: »Als der Sprecher mir mitteilte, dass Rosemary
freigegeben werden wollte, wurde der Bildschirm angeschaltet, damit
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