Hueter der Erinnerung
war also das große Missgeschick gewesen, dachte Jonas. Es war verständlich, dass es den Geber sehr belastete. Aber allzu
schlimm war es andererseits ja auch nicht. Er, Jonas, hätte so etwas nie getan – niemals würde er den Antrag stellen, freigegebenzu werden, egal wie schwer sein Training auch werden würde. Der Geber brauchte einen Nachfolger und er war auserwählt worden.
Ein Gedanke schoss ihm durch den Kopf. Rosemary war zu einem sehr frühen Zeitpunkt ihrer Ausbildung entlassen worden. Aber
was wäre, wenn ihm, Jonas, etwas zustoßen würde? Er trug inzwischen die Erinnerungen eines ganzen Jahres in sich.
»Geber«, sagte er nachdenklich, »ich darf zwar die Gemeinschaft nicht verlassen, aber was wäre, wenn mir etwas zustieße, ein
Unfall zum Beispiel? Was, wenn ich in den Fluss fiele, wie Caleb, der kleine Vierer damals? Nun, das ist ein schlechtes Beispiel,
weil ich ein guter Schwimmer bin. Aber was wäre, wenn ich nicht schwimmen könnte, in den Fluss fallen und ertrinken würde?
Dann gäbe es keinen neuen Hüter mehr und Ihr hättet bereits schrecklich viele wichtige Erinnerungen weggegeben. Selbst wenn
sie dann einen neuen Nachfolger auswählen, wären doch die Erinnerungen, die Ihr bereits übertragen habt, bis auf schwache
Bruchstücke verschwunden. Und was wäre, wenn …«
Plötzlich stutzte er und lachte dann. »Ich höre mich fast an wie meine Schwester Lily«, sagte er amüsiert zu sich selbst.
Der Geber blickte ihn ernst an. »Du musst dich vom Fluss fernhalten, mein Freund«, sagte er. »Die Gemeinschaft hat Rosemary
nach nur fünf Wochenverloren und es entpuppte sich als Katastrophe. Ich weiß nicht, was aus der Gemeinschaft werden sollte, wenn sie dich verlieren
würde.«
»Warum war es eine Katastrophe?«
»Ich glaube, ich habe es schon einmal erwähnt«, erklärte der Geber. »Als Rosemary uns verließ, kamen die Erinnerungen zurück
und überfluteten die Menschen. Wenn du im Fluss ertrinkst, Jonas, gehen die Erinnerungen nicht mit dir verloren. Erinnerungen
dauern fort bis in alle Ewigkeit.
Rosemary hatte nur die Erinnerungen von fünf Wochen Ausbildung gespeichert und die meisten waren angenehm. Aber da waren auch
jene schrecklichen Erinnerungen, die, die sie zu sehr belastet haben und zum Aufgeben veranlassten. Eine Zeit lang belasteten
sie dann die Gemeinschaft. All diese Gefühle! Woher sollten die Leute wissen, wie man damit umgeht? Ich war über Rosemarys
Verlust und das Gefühl, versagt zu haben, selbst so am Boden zerstört, dass ich nicht einmal versucht habe, ihnen aus ihrer
Verzweiflung herauszuhelfen. Ich war auch wütend.«
Der Geber verstummte, weil er offensichtlich über etwas nachdenken musste. »Weißt du«, sagte er schließlich, »wenn sie dich
nach deiner nunmehr fast einjährigen Ausbildungszeit verlieren würden, müssten sie all diese Erinnerungen selbst tragen.«
Jonas schnitt eine Grimasse. »Das wäre schrecklich für sie.«
»Mit Sicherheit. Sie wüssten nicht, wie sie damit umgehen sollten.«
»Auch ich kann nur damit umgehen, weil ich Euch habe und Ihr mir immer helft«, sagte Jonas mit einem tiefen Seufzer.
Der Geber nickte. »Ich nehme an«, sagte er bedächtig, »dass ich …«
»Dass Ihr was?«
Der Geber dachte angestrengt nach. Nach einer Weile sagte er: »Wenn der Fluss dich davontragen würde, könnte ich der Gemeinschaft
vielleicht nur auf dieselbe Art helfen, wie ich dir geholfen habe. Ein interessanter Gedanke! Ich muss ihn mir noch einmal
in aller Ruhe durch den Kopf gehen lassen. Vielleicht unterhalten wir uns ein andermal weiter darüber. Aber nicht jetzt. Ich
bin froh, dass du ein guter Schwimmer bist, Jonas, aber halte dich trotzdem vom Fluss fern.«
Er lachte, aber es war kein fröhliches Lachen. Er schien mit seinen Gedanken weit weg und seine Augen blickten sorgenvoll.
19
Jonas warf einen Blick auf die Uhr. Es gab immer noch so vieles zu tun und er und der Geber hatten lange dagesessen und sich unterhalten.
»Es tut mir leid, dass wir wegen meiner Fragerei so viel Zeit vergeudet haben«, sagte Jonas. »Ich habe nur gerade über das
Freigeben nachgedacht, weil mein Vater heute ein Neugeborenes freigibt. Einen Zwilling. Er muss einen der beiden auswählen
und einen entlassen. Es geht nach dem Geburtsgewicht.« Jonas blickte erneut zur Uhr. »Ich glaube, inzwischen ist es vorbei.
Ich nehme an, die Zeremonie fand bereits heute Morgen statt.«
Der Geber blickte sehr ernst
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