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Hueter der Erinnerung

Titel: Hueter der Erinnerung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Lois Lowry
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Mund des Gebers. »Es ist sehr schwierig, etwas zu erklären, wenn es um Dinge geht, die
     außerhalb des normalen Lebensbereichs liegen. Aber ich tat mein Bestes. Und sie hörte aufmerksam zu. Ihre Augen glänzten,
     daran erinnere ich mich noch gut.«
    Plötzlich blickte er auf. »Jonas, ich gab dir doch die Erinnerung, von der ich dir sagte, dass sie meine liebste ist. Einen
     Hauch davon trage ich noch in mir. Weißt du noch? Das festliche Zimmer mit der Familie und den Großeltern.«
    Jonas nickte. Natürlich erinnerte er sich. »Ja«, sagte er. »Die Szene mit dem wunderschönen Gefühl, von dem Ihr sagtet, dass
     es Liebe heißt.«
    »Dann kannst du verstehen, was ich für Rosemary empfand«, sagte der Geber. »Ich habe sie geliebt. – Und für dich empfinde
     ich dasselbe.«
    »Was geschah mit dem Mädchen?«, fragte Jonas.
    »Ihre Ausbildung begann. Sie nahm gut auf, genau wie du. Sie war so begeistert, so entzückt, neue Erfahrungen zu machen. Ihr
     Lachen klingt mir noch in den Ohren   …«
    Seine Stimme stockte und verlor sich dann.
    »Was geschah?«, fragte Jonas nach einer Weile erneut. »Bitte, erzählt es mir.«
    Der Geber schloss die Augen. »Es hat mir das Herz gebrochen, ihr schmerzliche Erinnerungen übertragen zu müssen. Aber es war
     meine Aufgabe. Ich musste es ihr antun, genau wie ich es auch dir antun musste.«
    Er verstummte. Jonas wartete. Schließlich fuhr der Geber fort.
    »Fünf Wochen lang. Das war alles. Ich gab ihr schöne Erinnerungen: eine Karussellfahrt, ein Kätzchen zum Spielen, ein Picknick.
     Manchmal wählte ich eine Erinnerung einfach nur deshalb, um sie zum Lachen zu bringen, und ich hütete ihr Lachen wie einen
     wertvollen Schatz in diesem Raum, in dem es immer so still gewesen war. Aber sie war wie du, Jonas. Sie wollte alles kennenlernen.
     Sie wusste, dass es ihre Pflicht war. Und deshalb verlangte sie, auch die schmerzlichen Erinnerungen kennenzulernen.«
    Jonas öffnete vor Schreck den Mund. »Ihr habtihr doch nicht den Krieg gezeigt, oder? Doch nicht nach erst fünf Wochen?«
    Seufzend schüttelte der Geber den Kopf. »Nein, ich gab ihr keine körperlichen Schmerzen. Aber ich vermittelte ihr das Gefühl
     der Einsamkeit und das des Verlusts. Ich übertrug ihr die Erinnerung an ein Kind, das von seinen Eltern fortgenommen wurde.
     Das war die erste schlimme Erinnerung. Danach war sie wie gelähmt.«
    Jonas schluckte. Rosemary mit ihrem fröhlichen Lachen hatte in seinem Kopf bereits Gestalt angenommen und er stellte sie sich
     vor, wie sie am Ende der schlimmen Erinnerung schockiert auf dem Bett saß und aufsah.
    Der Geber sprach weiter. »Ich machte einen Rückzieher, übertrug ihr eine Zeit lang wieder nur fröhliche Erinnerungen. Aber
     als sie zum ersten Mal mit seelischen Schmerzen konfrontiert worden war, änderte sich alles für sie. Das konnte ich in ihren
     Augen erkennen.«
    »War sie nicht tapfer genug?«, fragte Jonas.
    Der Geber ging nicht auf diese Frage ein. »Sie bestand darauf, dass ich weitermachte, dass ich sie nicht schonte. Sie sagte,
     es wäre ihre Pflicht. Und ich wusste natürlich, dass sie recht hatte. Ich brachte es einfach nicht über mich, ihr körperliche
     Schmerzen zuzufügen. Aber ich gab ihr die seelischen Qualen: Armut, Hunger und Panik. Ich musste es tun, Jonas, es war meine
     Aufgabe. Und sie war auserwählt worden.«Der Geber blickte ihn flehentlich an. Jonas streichelte seine Hand.
    »Schließlich, eines Nachmittags, waren wir mit einer weiteren Sitzung fertig, einer schweren Sitzung. Ich versuchte, den Tag
     mit einer schönen, fröhlichen Erinnerung abzuschließen. Aber die Zeiten des Gelächters waren unwiederbringlich vorbei. Sie
     erhob sich schweigend und stirnrunzelnd, als müsse sie angestrengt über etwas nachdenken. Bevor sie ging, kam sie noch einmal
     auf mich zu, legte ihre Arme um mich und küsste mich auf die Wange.« Sachte berührte der Geber die Wange, die Rosemarys Lippen
     vor zehn Jahren berührt hatten.
    »An jenem Tag ging sie, verließ diesen Raum, kehrte aber nicht zu ihrer Familie zurück. Über die Sprechanlage erfuhr ich wenig
     später, dass sie direkt zur Chefältesten gegangen war und darum gebeten hatte, freigegeben zu werden.«
    »Aber das ist wider die Regeln! Der auszubildende neue Hüter darf nicht   …«
    »Das steht in deinen Regeln, Jonas. In ihren stand es noch nicht. Sie wollte freigegeben werden und folglich mussten sie sie
     gehen lassen. Ich habe sie nie mehr wiedergesehen.«
    Das

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