Hueter der Erinnerung
aussehen. Und eines Tages, vielleicht wenn sie Sechser sind, würde dann die eine Sechsergruppe die
andere Sechsergruppe der anderen Gemeinschaft besuchen und plötzlich gäbe es zwei Jonathane, die genau gleich aussehen, und
dann würde man sie verwechseln und den falschen Jonathan mit zurücknehmen, und seine Eltern würden es vielleicht gar nicht
bemerken und dann …«
Sie machte eine Pause, um Luft zu holen.
»Lily«, sagte Mutter mitgenommen. »Mir ist eben eine großartige Idee gekommen. Vielleicht ernennen sie dich bei deiner Zwölfer-Zeremonie
zur Märchenerzählerin! Soweit ich weiß, gab es so etwas in unserer Gemeinschaft zwar noch nie, aber wenn ich Mitglieddes Komitees wäre, würde ich eindeutig dafür plädieren, dass dir diese Aufgabe übertragen wird!«
Lily grinste. »Ich habe eine noch bessere Idee für eine neue Geschichte«, verkündete sie. »Was wäre, wenn wir in Wirklichkeit
alle Zwillinge wären und es bloß nicht wüssten? Dann gäbe es in
Anderswo
eine zweite Lily, einen zweiten Jonas, ein zweites Elternpaar wie euch, einen zweiten Asher, eine zweite Chefälteste und …«
»Lily«, knurrte Vater mahnend, »ich glaube, es ist Zeit für dich, zu Bett zu gehen.«
18
»Geber«, sagte Jonas am nächsten Nach mittag, »habt Ihr je über die Freigabe nachgedacht?«
»Meinst du meine eigene Freigabe oder das Thema im Allgemeinen?«
»Beides, glaube ich. Ich entsch…, ich meine, ich hätte mich genauer ausdrücken sollen. Aber ich weiß nicht recht, wie ich
es gemeint habe.«
»Setz dich auf. Du brauchst nicht zu liegen, wenn wir uns unterhalten.« Jonas, der sich bereits auf dem Bett ausgestreckt
hatte, als ihm diese Frage über die Lippen kam, richtete sich wieder auf.
»Ich glaube, ich denke schon gelegentlich darüber nach«, sagte der Geber. »Wenn ich mich sehr elend fühle, denke ich an meinen
eigenen Abschied. Manchmal wünschte ich, ich könnte den Antrag stellen. Aber das ist mir nicht erlaubt, ehe ich nicht meinen
Nachfolger ausgebildet habe.«
»Mich«, sagte Jonas niedergeschlagen. Er freute sich nicht auf das Ende seiner Ausbildung, wenn er zum offiziellen neuen Hüter
der Erinnerungen ernannt werden würde. Es war ihm klar, dass es, trotz der Ehre, die seine Aufgabe mit sich brachte, ein sehr
einsames und schwieriges Leben sein würde.
»Ich darf auch keinen Antrag stellen«, sagte Jonas. »Das steht in meinen Vorschriften.«
Der Geber lachte rau. »Das weiß ich. Diese Vorschrifthaben sie nach dem bedauerlichen Vorfall vor zehn Jahren hinzugefügt.«
Wie oft hatte Jonas jetzt schon Anspielungen auf den damaligen Vorfall gehört? Aber er wusste noch immer nicht, was vor zehn
Jahren genau passiert war. »Geber«, sagte er, »erzähl mir, was damals geschah. Bitte!«
Der Geber zuckte mit den Achseln. »Im Grunde genommen war es eine einfache Geschichte. Mein Nachfolger wurde auserwählt, genau
wie du auch. Die Wahl ging relativ rasch über die Bühne. Bei der Zeremonie wurde die Entscheidung verkündet. Das Publikum
klatschte Beifall, genau wie bei dir. Der neue Hüter war etwas ängstlich, aber auch stolz, genau wie du.«
»Es war ein Mädchen, nicht wahr?«
Der Geber nickte.
Jonas dachte an Fiona, das Mädchen, das er sehr gerne mochte, und erschauderte. Niemals würde er sich wünschen, dass die sanftmütige
Fiona so leiden müsste wie er, als er bestimmte Erinnerungen aufnahm. »Wie war sie?«, fragte er den Geber.
Traurig antwortete dieser: »Sie war eine bemerkenswerte junge Frau. Sehr selbstbeherrscht und ausgeglichen. Intelligent, lernbegierig.«
Er schüttelte den Kopf und holte tief Luft, ehe er fortfuhr. »Weißt du, Jonas, als sie zum ersten Mal diesen Raum betrat,
zu ihrer ersten Ausbildungsstunde …«
Jonas konnte seine Frage nicht länger zurückhalten.»Könnt Ihr mir ihren Namen sagen? Meine Eltern haben gesagt, er dürfe in der Gemeinschaft nicht mehr ausgesprochen werden.
Aber vielleicht könnt Ihr ihn mir trotzdem verraten.«
Der Geber zögerte, als koste es ihn große Überwindung. »Ihr Name war Rosemary«, sagte er schließlich.
»Rosemary? Ein schöner Name.«
Der Geber sprach weiter. »Als sie das erste Mal hierherkam, saß sie dort auf dem Stuhl, genau wie du am ersten Tag. Sie war
gespannt und aufgeregt, hatte aber auch ein bisschen Angst. Wir unterhielten uns. Ich versuchte, ihr alles zu erklären, so
gut ich es konnte.«
»Genau wie mir.«
Ein wehmütiges Lächeln umspielte den
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