Hüter der Flamme 04 - Der Erbe der Macht
Darf ich?«
»Jetzt. Steh auf und geh weg da, Karl Cullinane.«
Chuzet zog ein Horn aus seinem Beutel, setzte es an die Lippen und blies hinein. Das Horn schickte einen klaren, hallenden Ruf in die Nacht hinaus.
Der melodische Laut sandte Karl einen Kälteschauer durch den ganzen Körper.
Kapitel achtundzwanzig
Der Mensch denkt
Ich fange an, den Tod und die Verstümmelung mehrerer Tausend Menschen als unbedeutende Kleinigkeit zu betrachten, als eine Art Morgenspaziergang - und vielleicht ist es gut, daß wir allmählich so abgehärtet werden.
William Tecumseh Sherman
Der Ruf des Horns weckte Jason aus seinem leichten Schlaf.
Er hatte gar nicht schlafen wollen, aber es gab nichts anderes zu tun, bis sich eine Möglichkeit zum Handeln bot.
Hervians Schwadron war mit dem Rest der Kompanie in einem der größeren Festhäuser der Melawi untergebracht, und trotzdem herrschte eine drangvolle Enge. Das Haus mit dem gewölbten Dach war für etwa fünfzig Personen vorgesehen, die in fröhlicher Runde kochten, aßen und tranken; für hundertundsoundsoviel Schlafstellen reichte der Platz nicht aus. Wäre nicht ein Viertel der Kompanie ständig im Dienst gewesen, hätten sie aufeinandergehockt wie an Bord des Schiffes während der Überfahrt, aber zumindest mußten sie sich hier nicht zu mehreren ein Bett teilen.
Außerdem stank es. Nach Scheiße, Pisse, Schweiß und Angst.
Seine Taktik des Schreckens trug Früchte; die Söldner drängten sich zusammen wie eine Herde Schafe in einer kalten Nacht.
Das Hörn ertönte zum zweitenmal, als Jason sich mit einem Ruck aufsetzte und die beinahe reglosen, schnarchenden Leiber um ihn herum zu wimmelnder Geschäftigkeit erwachten.
»Das Horn! Sie haben ihn ...«
»Gib mir das Gewehr. Vielleicht ist es nur falscher Alarm ...«
»... oder ein Trick von diesem mordgierigen Schwein.«
»Fang nicht an, deine Belohnung zu zählen, bevor ...«
»Geh von meinem Schwert runter, du pockennarbiger Bastard, oder ich stopf dir deine Eier ins Maul ...«
Am Eingang des Hauses flammte eine Laterne auf.
Die laute Baßstimme von Ahod Channar, dem Kompaniechef, übertönte den Lärm. »Ruhe, alle miteinander«, brüllte der Sklavenjäger und unterstrich seine Aufforderung, indem er seinen Stock auf den Boden stieß. »Wir alle haben das Horn gehört. Es kann bedeuten, daß wir hier fertig sind, oder auch, daß es jetzt erst richtig losgeht. Ich will sofort jeden einzelnen Mann einsatzbereit und bewaffnet draußen stehen sehen. Bevor wir etwas unternehmen, warten wir entsprechende Befehle und eine genauere Meldung ab.«
Pelius, der anscheinend in seinen Kleidern geschlafen hatte, hob sein Gewehr auf und beugte sich zu Jason, der eben seinen Schwertgurt umschnallte. »Was bedeutet, daß mal wieder keiner Bescheid weiß, wie üblich. Ich wette, daß wir bis zum Morgen nichts zu essen kriegen.«
Pelius war ein gutes Beispiel für des durchschnittlichen Söldners vorrangiges und hauptsächliches Interesse: seinen Bauch. Der große, hagere Mann erweckte ständig den Eindruck, zwei Mahlzeiten im Rückstand zu sein.
Jason mußte Channar zugestehen, daß er sich bemühte, seinen Männern regelmäßige Mahlzeiten zu verschaffen. Jason hatte den Verdacht, daß Ahrmin die Bäuche seiner angeworbenen Söldner so wenig interessierten wie ihre Hälse; vermutlich gehörte es zum Plan des Krüppels, die bezahlten Helfer von Karl in Stücke hauen zu lassen, bis es den Jägern der Gilde gelang, ihren Mann zu fassen.
»Ich wette, wir bekommen bis morgen früh nichts zu essen«, wiederholte Pelius. »Was denkst du?«
»Weiß nicht«, antwortete Jason und verfluchte sich für seine zitternde Stimme, bis er gleich darauf begriff, daß solche Anzeichen von Furcht seiner Tarnung keineswegs schadeten; man erwartete von ihm, daß er sich fürchtete.
»Wie sieht es mit Munition und Proviant aus?« rief eine Stimme. »Ich habe nur eine Flasche ...«
»Ruhe, hab' ich gesagt!« Ahod Channar überlegte einen Moment. »Kackum - nimm deine Abteilung, geh zum Waffendepot und laß dir für jeden Mann zusätzliche Munition aushändigen. Was die Verpflegung angeht ... Hervian, da deine Einheit so verdammt geschwätzig gewesen ist, helft ihr der Köchin beim Feueranzünden und teilt die Portionen aus.«
In Teilen des Waldes war das Laubdach selbst für Walter Slowotskis außergewöhnliche - für einen Menschen außergewöhnliche - Nachtsicht zu dicht, doch Ahiras Augen vermochten die Finsternis zu durchdringen, und er
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