Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe
Grassetti das Händeschütteln und von oben bis unten Abtaxieren hinter sich. Jeder andere Mann wäre erfreut gewesen, diese nette, ansprechende junge Dame zur Aufklärung eines bizarren Doppelmordes an die Seite gestellt zu bekommen. Huber war nicht hocherfreut, er war nicht einmal erfreut. Er befürchtete vor allem, aus der Bahn der mit Routine absolvierten und gesicherten Tagesabläufe geworfen zu werden. Er musste nachdenken und dafür konnte er keine Frau gebrauchen. Seine Exfrau hatte ihm unlängst noch einmal zu verstehen gegeben, dass Männer verblödete, triebgesteuerte Tiere seien. Obwohl man keine Sekunde darauf verwenden sollte, über einen derartigen Vorwurf nachzudenken, tat Huber es trotzdem. In allem liegt ein Funke Wahrheit, dachte er und er wollte beweisen, dass sie unrecht hatte.
Natürlich war er dankbar über Hilfe in diesem verworrenen Fall, aber eine Frau …? Sie wird mir ständig dumme Fragen zu meinem Beruf stellen, wird mich in meiner Arbeit korrigieren und mir ihre Version der Dinge vermitteln wollen. Sie wird mich in den Wahnsinn treiben mit ihrer Schönheit und ihren unverschämten Rundungen. Sie wird mein Leben durcheinanderbringen. Wie soll ich mich in ihrer Gegenwart auf meine Ermittlungen konzentrieren? Solche oder ähnliche Befürchtungen hatte er seinem Chef mitteilen wollen, doch sie blieben unausgesprochen, wie so vieles im Leben eines Mannes.
Falkner war sich nicht sicher, ob seine Anwesenheit in Hubers Büro überhaupt noch von Nöten war. Er hatte Huber die Akte übergeben und sich damit geschickt aus der Affäre gezogen. Frau Grassetti hatte ja zwei Tage zuvor das Einverständnis des Polizeipräsidenten bekommen und alles andere würde sich entwickeln.
»Wie haben Sie sich denn unsere Zusammenarbeit vorgestellt, Frau Grassetti?«, fragte Huber mit unverkennbarer Zurückhaltung in der Stimme.
»Ich habe verständlicherweise ein großes Interesse daran, das der Mörder meines Onkels gefasst wird. Außerdem interessiert mich, warum die Lanze gestohlen wurde. Mein Onkel war mit dem Geschick der Lanze sehr vertraut – und zwar seit ihrem erstmaligen Auftauchen in der Geschichte. Er hat mir, neben den Informationen, die mir das Studium geliefert hat, alles über sie erzählt. Außerdem, und das dürfte für Sie von größerer Bedeutung sein, habe ich den Typen klar und deutlich vor mir gesehen, bevor er mich bewusstlos geschlagen hat.« Grassetti hob die Hände zu einer offenen Geste. »Der Sinn meiner Mitarbeit könnte also darin bestehen, Ihnen alle Fragen zur Heiligen Lanze zu beantworten – und ich kann den Mörder identifizieren.«
Huber nickte stumm und suchte verzweifelt nach Argumenten, um sie von ihrem Vorhaben abzubringen. »Haben Sie schon einmal eine Leiche gesehen?«, fragte er.
»Oh ja. Einige Male.« Hubers Hoffnung schmolz dahin. »Mein Vater war Arzt in Rom, und als ich mir überlegte, welchen Beruf ich ergreifen wollte, hat er mich in die Anatomie mitgenommen. Er war der Überzeugung, wenn ich den Anblick der von Studenten zerstückelter Leichen ertragen könne, könnte ich auch eine gute Ärztin werden.«
Huber und Falkner wechselten einen überraschten Blick. »Und? Konnten Sie?«
»Es hat mir nichts ausgemacht, die Leichen zu sehen, aber ich wollte trotzdem keine Ärztin werden. Ich liebe Bücher, schreibe Kurzgeschichten und Gedichte, bin gerne mal hier und da und möchte mich nicht durch den ständigen Umgang mit Krankheiten das Leben vermiesen lassen. Es reicht mir zu wissen, dass wir krank werden können und sterben müssen, aber täglich daran erinnert werden … das muss nicht sein.« Sie schüttelte den Kopf, wobei sich das braune Haar wie im Wind wiegende Gräser hin und her bewegte. Huber dachte im ersten Augenblick, dass diese Einstellung ziemlich egoistisch sei. Dann sagte er sich, dass sie damit wahrscheinlich recht hatte, wenn sie lieber einer Beschäftigung nachging, die zu ihr passte, als irgendwelchen klischeebehafteten Konventionen entsprechen zu wollen.
Falkner mischte sich ein und wandte sich an Frau Grassetti. »Bevor ich es vergesse: Es ist noch ein weiteres Opfer gefunden worden. Nahe der deutschen Grenze. Das Besondere daran ist, dass der Kerl dieselbe Stichwunde aufweist wie Ihr Onkel.«
Huber deutete mit dem Kopf in eine nicht nachvollziehbare Richtung und ergänzte: »Dieser Mann liegt jetzt in der Pathologie. Ich wollte ihn mir gerade mal anschauen. Also, wenn Sie unbedingt mitwollen …«
Grassetti schaute von Huber
Weitere Kostenlose Bücher