Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe
Frage. Einen kurzen Augenblick zögerte er, entschied sich dann aber, ihr die Wahrheit zu sagen. Er nickte mit einer Geste, die wie »Herzliches Beileid« wirkte.
Huber unterbrach die peinliche Szene. »Ich werde mich an diesen Geruch nie gewöhnen«, murmelte er in Roulets Richtung.
»Sie denken, der Anblick sei für mich unzumutbar?«, fragte Grassetti und dankte dem Arzt für sein Taktgefühl. »Es macht doch gar keinen Unterschied, ob ich mir nur vorstelle, wie er nach der Obduktion aussehen könnte oder ich es de facto auch sehe.«
»Es ist trotzdem nicht nötig, die Stichwunden sind absolut identisch. Es reicht, sich diesen Mann hier anzuschauen.« Roulet sah betroffen aus. »Er hat ein fremdes Gesicht, das macht den Unterschied.«
Raphaela nickte und gab sich mit dieser Erklärung zufrieden. Was hätte es für einen Sinn gehabt, sich mehr als nötig zu quälen? Der Mediziner schritt zu dem blanken Tisch, auf dem das Opfer Nr. 2 lag, und nahm das ihn bedeckende grüne Tuch ab.
Huber hielt sich ein zerknautschtes Taschentuch vor Mund und Nase und wandte sich angewidert von dem offenen Leichnam ab, sodass er nur aus dem Augenwinkel den geöffneten und gespreizten Bauchsitus wahrnahm. Auf dem Beistelltisch des Pathologen lag eine kleine, elektrisch betriebene Kreissäge, mit der das Brustbein durchtrennt worden war, um Zugang zu Herz und Lungen zu bekommen – sowie diverse andere Instrumente, die griffbereit nebeneinanderlagen. Wohin Huber auch schaute; selbst nach zehn Jahren Ermittlungstätigkeit ließ ihn der Anblick eines toten Menschen nicht kalt. In diesem Augenblick klingelte sein Handy und er war zutiefst dankbar dafür, sich für einen Augenblick entfernen zu können.
»Huber.«
»Sind Sie noch in der Pathologie?«, begann Falkner, ohne seinen Namen zu nennen, da die Nummer ohnehin auf dem Display des Handys zu lesen war.
Huber nickte. »Ja sicher, Chef.«
»Wir wissen jetzt, wer der zweite Tote ist. München hat soeben angerufen. Das genetische Gutachten liegt vor. Er ist in Deutschland schon eine Weile aktenkundig.« Huber hörte im Hintergrund das Rascheln vom zügigen Umblättern mehrerer Seiten.
»Schwere Körperverletzung und Diebstahl. Er heißt Bukowski. Harald Bukowski. 1 Meter 87, braune Augen Blutgruppe A, Rhesus positiv. Er hat eine Liste von Straftaten, die so lang ist wie die Liste eines Einkaufzettels vor dem nahenden dritten Weltkrieg.« Falkner lachte laut auf. Er fand seine eigenen Witze unwiderstehlich. Wenn sich Huber Vergünstigungen wie ein paar Tage Urlaub oder einen etwas früheren Dienstschluss erhoffte, lachte er mit, sonst nicht.
Von Ferne betrachtete er, wie Raphaela Grassetti dem Sektionstisch zugewandt dastand. Sie schaute zu ihm herüber und schien sich noch nicht sicher zu sein, wie lange sie sich den Anblick des Toten noch zumuten wollte. Eine junge Frau ihres Formats war nicht täglich mit aufgeschlitzten Leichen zusammen. Huber näherte sich den beiden nur widerwillig.
»Grassetti klingt irgendwie südländisch«, bemerkte der Pathologe ohne sie anzuschauen.
»Mein Vater war Italiener.«
»War?«
»Er ist letztes Jahr an einem Herzinfarkt gestorben. Zuviel Stress.« Roulet blickte auf.
»Wie alt ist er geworden?«
Huber schlich sich an den OP-Tisch und an den widerwärtigen Geruch heran. Trotz des Ekels, den er empfand, wollte er gerne die Unterhaltung mitbekommen.
»Siebenundfünfzig. Er war übrigens ein Kollege von Ihnen.« Roulet schluckte. Er selbst war nur ein Jahr älter als Raphaelas Vater zum Zeitpunkt seines Todes.
»Auch in der Gerichtsmedizin?«
»Internist in Rom«, antwortete sie einsilbig. Die Unterhaltung bereitete ihr Mühe, und sie spürte, dass sie noch nicht über den Verlust ihres Vaters hinweggekommen war – und nun auch noch ihr Onkel.
Roulet wechselte das Thema. »Huber, kommen Sie mal. Das wird Sie interessieren.« Der Kommissar lehnte sich über die geöffnete Leiche und versuchte dieselbe Begeisterung für die Innereien des fettleibigen Mannes aufzubringen. »Ich habe noch nie einen derart breiten Schnitt gesehen. Wenn Sie sagen, es war kein Messer, was war es dann?«
Huber wandte sich ab und trat einen Schritt zurück. Er musste Luft holen. Grassetti kam ihm zu Hilfe. »Es war ein Lanzenstich, genau wie bei meinem Onkel. Von einer 1200 Jahre alten karolingischen Flügellanze.«
XVII
Zu Hause angekommen versuchte Schneider, seine Emotionen in den Griff zu bekommen, doch es gelang ihm nicht. Stattdessen ertappte
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