Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe
er sich, dass er viele Lichter im Haus anknipste und verstohlen hinter den Türen nachsah. Wie sollte man in dieses Haus eindringen, ohne die gesamte Nachbarschaft aufzuschrecken? Das Horn der Alarmanlage hatte eine Schallkapazität von vielen Dezibeln und der Alarm wäre über die Dächer bis ans Ende der Straße gedrungen, falls jemand auf die idiotische Idee kommen würde, bei Dr. Richard Schneider einzubrechen.
Einem Impuls nachgebend ging er in den Keller. Nicht, um nachzusehen, ob die Lanze noch an ihrem angestammten Platz war, sondern um sich mit ihr zu treffen, ihr zu begegnen und sich mit ihr und ihrer Aura zu vereinen. Diesmal jedoch mischte sich zu der Verehrung, dem Stolz und der Machtgier noch ein anderes Gefühl. Angst und damit eine Empfindung, die ihm bisher fremd gewesen war. Wovor oder vor wem er Angst hatte, konnte er nicht genau benennen, das Gefühl war durchaus real. Die Angst war neu in diesem Raum und in seinem Kopf. Was ist bloß anders als vorhe r, fragte er sich. Mit welchem Recht wagte es die Angst, sich seiner zu bemächtigen?
Rein äußerlich war in Schneiders Haus alles wie immer. Die Möbel standen an ihrem Platz, das schmutzige Geschirr türmte sich im Spülbecken und die Zahnpastatube war offen und am Verschluss verkrustet. Kein Grund zur Sorge. Das jedenfalls redete er sich ein. Der Haushälterin hatte Richard vor einiger Zeit gekündigt, und als die Ereignisse mit seinem Vater und den Tagebüchern ihren Lauf nahmen, war er über diese Entscheidung froh gewesen. Doch jetzt, als er sich das Chaos in seinem Haus ansah und sich unfähig fühlte, es zu beseitigen, bereute er seinen Entschluss. Er hatte das Bedürfnis, irgendein vertrautes menschliches Wesen um sich haben, selbst wenn es nur eine untersetzte spanische, ewig trällernde Haushälterin war. Eigentlich war Maria eine Perle, und er wusste es. Doch nun, wo er keinerlei Zeugen seines Treibens gebrauchen konnte, empfand er sie als zu gefährlich. Mit der Lanze in seinem Besitz konnte er sich bald zehn Marias leisten, die von früh bis spät um ihn herumhuschten und ihm jeden Wunsch von den Augen ablasen – auch solche, die nichts mit dem Haushalt zu tun hätten.
Die Stufen unter seinen Schuhen klangen an diesem frühen Nachmittag seltsam hart, und er ging sie bedächtig, nicht übereilt. Er schwitzte, dass das Hemd an seinem Bauch klebte. Sein Atem und sein Puls beschleunigten sich. Er tippte die neunstellige Kombination in das Display des Safes ein und öffnete die Tür. Seine Muskeln waren ungewohnt verspannt und fast hätte er es nicht geschafft, den Raum zu betreten. Eine eigenartige Lähmung bemächtigte sich seiner, als würde hinter dieser Tür jemand auf ihn warten, der ihm nicht wohlgesonnen war.
Die schwere Tür öffnete sich wie gewohnt.
Der Anblick der Lanze war an diesem Tag nicht ausschließlich von glückseliger Euphorie begleitet. Oh ja, sie war immer noch wunderschön, kein Zweifel, ein herrlicher Zeitzeuge vergangener Epochen, siegreicher Kämpfe und teuflischer Intrigen. Doch als er sie aufnahm, war es, als hätte er ein missgebildetes Kind auf dem Arm, das obendrein nicht von ihm stammte. Er empfand sie nicht mehr als Beglückung und Bereicherung, nicht mehr als Segen und Glücksbote, sondern als Fremdkörper und Eindringling. Die Wunde an seinem Finger pochte heftig, als wollte sie herausschreien, durch wen sie entstanden sei.
Schneider hielt die Lanze von seinem Körper weg. Seltsame Empfindungen krochen in ihm hoch, Abscheu oder Übelkeit und diese verfluchte Angst. Er sah sich in dem kleinen Raum um, doch es war niemand da, zumindest niemand, den man mit menschlichen Augen hätte sehen können. Die letzten Worte seines Vaters hämmerten höhnisch in seinem Hirn: Und verletzte dich um Himmels willen nie an der Spitze der Lanze. Du würdest es nicht überleben.
Der Schweiß platschte von seiner Stirn auf den grauen Betonboden. Zitternd legte er die Lanze ins Regal zurück und wischte sich die Hände an seiner Jacke ab, als könnte ihn dies von aller Schuld reinwaschen. Das vergossene Blut zweier Menschen klagte ihn an, daran war nichts zu ändern.
Das Verlassen des begehbaren Safes glich eher dem langsamen Rückzug vor einem imaginären Feind, und er war sich nicht sicher, ob er es noch einmal schaffen würde, diesen Ort aufzusuchen. Welch unheilige Wahrheit verbarg diese Waffe? Die Tür fiel mit einem dumpfen Klacken ins Schloss. Die Lanze war verriegelt und verrammelt, und er fühlte sich ein
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