Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe
das seinem Vater gehört hatte, aus dessen verkrampfter Hand und steckte es zurück in seine Tasche. Bleich verließ er das Krankenzimmer und blickte sich ein letztes Mal nach seinem Vater um.
Auf dem Gang kam eine Schwester vorbei, und mit Gleichmut und Resignation in der Stimme sagte er: »Mein Vater ist soeben gestorben.« Er deutete auf die geöffnete Tür des Zimmers. Die Schwester eilte hinein.
Als der mit Notsignal herbeigerufene Arzt im Krankenzimmer des Toten erschien, war Dr. Richard Schneider spurlos verschwunden.
Die Fahrt zurück nach Hause bewältigte er wie im Trance. Kuppeln, schalten, Gas geben – alles lief wie von selbst. Wozu Gedanken an Dinge verschwenden, die auch von alleine funktionierten. Alles passierte mechanisch, nur die Trauer nicht. Die Tränen konnten sich nicht entscheiden, ob sie in der Fülle eines Sturzbaches die Wangen hinunterlaufen oder sich nur als kleines Rinnsal am unteren Rand der Lider sammeln und dort verharren sollten.
In Schneiders Kopf drehten sich die Gedanken wie ein Karussell. Wer um alles in der Welt ist diese unheimliche Bruderschaft, Gesellschaft, Organisation oder wie man auch immer diese Vereinigung von machthungrigen Despoten nennt?
In dem Augenblick, in dem ihn sein Vater über das Geheimnis der Lanze einweihen wollte, wurde ihm die Lebenskraft entzogen. Was ihm jedoch am meisten Sorgen machte, war nicht die Tatsache des unvermeidlichen Ablebens seines Vaters, sondern dass man ihm auf den Fersen war. Wie konnten diese Leute davon wissen, dass, und wie er die Lanze in seinen Besitz gebracht hatte? Hatte man ihn die ganze Zeit beschattet? Hatte sein Vater recht, und Schneider hatte unwissentlich die Drecksarbeit für die Gesellschaft erledigt? Aber das galt nur für den Fall, dass er ihnen die Lanze wirklich aushändigen würde – und das würde er um nichts in der Welt tun. Seine Gedanken standen nicht still. Wie würde es weitergehen? Die Beerdigung musste organisiert werden, und was viel schlimmer, zeitraubender und nervtötender werden würde, war die Auflösung des Haushaltes seines Vaters. Alte Klamotten, Papiere, Versicherungspolicen und Erinnerungen. Richard musste einen Weg finden, diese Arbeit an andere zu delegieren. Bisher glaubte er zwar nicht an Zauberei, Flüche, Verwünschungen oder dergleichen, doch die letzten Worte seines Vaters bereiteten ihm eine gewisse Unruhe. »Verletze dich um Himmels willen nie an der Spitze der Lanze aus Wien. Du würdest es nicht überleben.« Wir sterben alle irgendwann , dachte er. Er erinnerte sich an eine Begebenheit aus den Tagebüchern seines Vaters. Die Wunde, die sich Himmler mit der Lanze zugefügt hatte. Drei Jahre später war er tot gewesen; Selbstmord durch eine in der Zahnlücke versteckte Zyankalikapsel. Richard wurde heiß, und das Öffnen des Fensters änderte nichts daran.
XVI
Falkner wandte sich zum Gehen, als es an der Bürotür klopfte, eine dieser Glastüren, auf denen eine matte Folie aufgeklebt war, die zwar Licht durchließen und das Gefühl des Nichteingesperrtseins vermittelten, aber mit verzerrten Konturen erkennen ließen, wer vor der Tür steht. In diesem Fall konnte man erahnen, dass es sich um eine weibliche Person handelte. Auch die Art des Klopfens und das nicht zeitgleiche Eindringen deuteten auf typisch weibliche Eigenarten hin, die nur jenen zu eigen war, die nicht von morgens bis abends in dieser Abteilung arbeiteten. Ein fast simultanes »Herein« der beiden im Raum befindlichen Männer löste das Rätsel auf. Obwohl Falkner Frau Grassetti bereits kannte, war er doch überrascht, wie schnell der Himmel aufklaren konnte. Der Beamte übergab den noch glimmenden Zigarettenstummel der linken Hand, obgleich diese auch nicht wusste, wohin damit, da Huber ja vor drei Wochen jegliche Varianten von Aschenbechern aus seinem Büro verbannt hatte. Falkner hoffte, dass die Zigarette, wenn die Glut keinen Tabak mehr zum Verzehren fände, von allein erlöschen würde. Das Gegenteil war der Fall, sodass er sich nach einem flüchtigen »Hallo, Frau Grassetti« schleunigst auf den Weg zu einem Aschenbecher begeben musste. Er eilte in sein Büro, das drei Türen weiter lag, und ließ Huber allein zurück. Verärgert grummelnd brachte er den Überrest der ihn anklagenden Giftquelle zum Schweigen und bewunderte Huber für dessen Durchhaltevermögen, da er selbst dergleichen nicht einmal drei Tage lang schaffen würde.
Als Falkner in Hubers Büro zurückkam, hatten der und Frau
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