Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe
legen, nicht zu lange mit dem Besuch zu warten, denn sonst wäre alles vergebens gewesen.
Gottes reichen Segen
Ihr Francesco Montesi
Raphaela las den Brief dreimal hintereinander durch, um zwischen den Zeilen die Botschaft herauszufiltern, die sich dort verborgen hielt. Warum hatte der Pater ausgerechnet sie ausgewählt, um Geheimnisse über die Lanze weiterzugeben? Warum sprach er so ausführlich von der Lanze, mit der Jesu Tod festgestellt worden war? Warum nannte er sie nicht einfach die Lanze aus Wien oder die ›Heilige Lanze‹? Sprach er von einer Lanze, von der sie trotz ihrer Studien nichts wusste? Sie faltete den Brief zusammen und steckte ihn in den aufgerissenen Umschlag zurück. Sie ging zu ihrem Computer, schaltete ihn ein und suchte den nächsten Flug nach Rom und einen Leihwagen heraus. Schnell wurde sie fündig, bestätigte fieberhaft die Buchung, druckte den Beleg aus und verschwand anschließend im Schlafzimmer. Wie lange sie bleiben, was Sie dort erwarten und welche Kleidung sie benötigen würde, war ihr nicht klar. Sie hasste es, so viele unbekannte Faktoren bei einer Reise bedenken zu müssen. Sie packte wenige Dinge für ihren Flug am nächsten Tag ein.
Woher wusste der alte Mann von ihrer Suche nach der antiken Lanze? Wie konnte er sie in so kurzer Zeit durchschaut haben? Und warum machte er in seinem Brief nur Andeutungen? Warum tat er so geheimnisvoll ? In weniger als fünf, maximal sechs Stunden würde sie es wissen. Irgendetwas an diesem Mönch, Pater oder einfach nur gläubigen Mann hatte sie fasziniert. Er strahlte eine Tiefe gelebter Gotteserfahrung aus, die ihr nie zuvor in derart komprimierter Form bei einem Menschen begegnet war.
Ihr Flug wurde aufgerufen, und Raphaela fand sich im Warteraum für die Reisenden ein. Sie rutschte auf dem Kunststoffstuhl vor, um eine bequemere Haltung einzunehmen, und beobachtete die Mitreisenden, die auf den Einstieg in ihre Maschine warteten. Da waren italienische oder deutsche Geschäftsleute in feinen Anzügen mit Aktenkoffern in den Händen. Auch einige wenige Familien mit kleinen Kindern befanden sich unter den Fluggästen. Schließlich noch eine große Gruppe von Passagieren, denen auf die Stirn geschrieben war, dass sie aus religiösen Gründen nach Rom fliegen wollten. Solche, deren Blusen und Hemden zu sittsamen Röcken oder Hosen passten und hochgeschlossen waren. Jene, die weder Geld noch Mühe noch Zeit scheuten, um eine Begegnung mit dem Papst zu erleben. Deren größter Wunsch es war, von ihm ein Lächeln, ein Winken oder gar eine Berührung zu erhalten. Welche Träume nahmen sie in ihren Herzen mit auf den Flug? Hoffnung auf die Genesung einer Krankheit, Zuversicht in Bezug auf eine neue Arbeitsstelle, die feste Überzeugung, den Partner für´s Leben zu finden? Und das alles als Lohn für die Mühen der Pilgerreise, für das Anzünden der Kerzen und Küssen der Reliquien?
Die Menschen gingen, nachdem sie aufgerufen wurden, zu ihren Plätzen und verbrachten den Flug mit ruhigen Gesprächen, hörten Musik oder verharrten in stiller Betrachtung ihrer eigenen Gedanken und Träume. Raphaela saß inmitten dieser Menschen und beobachtete sie fasziniert. Neben ihr nahm eine Nonne Platz. Sie hielt ihren Rosenkranz in der Hand und ließ, einem alteingeübten Mechanismus folgend, ein Kügelchen nach dem anderen durch ihre Finger gleiten, während sie in Gedanken pausenlos das »Ave Maria« vor sich hin betete. Dabei waren ihre Augen auf kein festes Ziel in der Flugkabine gerichtet. Sie schauten durch alles hindurch bis ins Unendliche.
Warum ist die Wahrheit nur so verborgen? , dachte Raphaela und fragte sich, welche Wege zu Gott führten. War dieser Jesus, der sich selbst als den einzigen Weg bezeichnet hatte, die Antwort? Zeitlebens hatte sie diesen Anspruch als eng und intolerant im Reigen der Religionen empfunden. Doch seit sie Montesi getroffen hatte, erschien ihr eine starke Überzeugung nicht mehr als Enge, sondern als Befreiung innerhalb der riesigen Auswahl, die die Welt ihr bot. Sie war katholisch erzogen worden und hatte alles mitgemacht, ohne es zu hinterfragen. Aber sie war nicht zu dem vorgedrungen, vom dem man sagte, dass er der Stifter der christlichen Religion sei. Sie wusste selbst nie genau, warum die ›Heilige Lanze‹ sie so faszinierte, was sie sich von ihr versprach und von ihr erhoffte. War sie nicht doch nur ein Stück Holz und Metall, mit dem kein Heil verbunden war? Ihr Onkel war, als Ironie des
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