Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe
Schicksals, durch eben jene Lanze ums Leben gekommen. Viele Menschen – Wahnsinnige, Machthungrige oder auch nur Suchende – hatten ihr eigenes oder das anderer Leben geopfert, um in den Besitz dieser alten Reliquie zu gelangen. Was trieb diese Menschen und im Grunde sie selbst, so weit zu gehen?
Über eine Stunde hing sie ihren Gedanken nach. Alois war ihr ein guter Freund geworden, aber nicht mehr. Sie hatte überlegt, ihn anzurufen und ihm von ihrer Reise zu Montesi zu erzählen, sie entschied, es nicht zu tun. Sie mochte den Kommissar, aber sie liebte ihn nicht.
Die Nonne, deren weiche, weiße Gesichtszüge unter der Haube hervorleuchteten, sah sie seit geraumer Zeit von der Seite an. Ja, sie studierte ihre Nachbarin regelrecht und nahm den Mut zusammen, sie anzusprechen. »Man kann Ihre Gedanken im ganzen Flugzeug hören«, sagte sie und gab Raphaela lachend die Hand. »Ich bin Schwester Katharina.«
»Oh Hallo. Grassetti. Raphaela Grassetti«, erwiderte die junge Frau den freundlichen Gruß und drückte die ihr angebotene Hand.
»Ich hoffe, Sie halten mich nicht für unhöflich, weil ich Sie einfach anspreche. Aber ich dachte: Sie sehen so deprimiert aus! Und ich habe mich gefragt, ob ich Ihnen vielleicht helfen kann.«
»Das ist wirklich lieb von Ihnen, aber es ist schon okay. Fliegen Sie auch nach Rom?« Im gleichen Moment bemerkte sie, wie absurd ihre Frage war.
Doch die Nonne lachte vergnügt. »Ja, ich habe eine Audienz beim Heiligen Vater. Ich freue mich schon seit einem Jahr darauf. Und Sie?«
Raphaela überlegte, ob sie vom Zweck ihrer Reise erzählen sollte, entschied sich aber, nur das wiederzugeben, was sie selbst auch wusste. »Ich besuche ein Kloster in der Toskana und treffe dort einen alten Mönch. Er hat mich eingeladen.«
Die Nonne wusste nicht so recht, was sie davon halten sollte, dass ein alter Mönch eine hübsche junge Frau zu sich einlud. Zu gern hätte sie nachgefragt, beschloss aber zu schweigen. »Aha«, sagte sie kurz und wandte sich ihrer Lektüre zu, der deutschen Ausgabe des »L’ Osservatore Romano«.
Die klassische moralisch-politische Zeitschrift des Vatikans, Pflichtlektüre für einen jeden guten Katholiken und erst recht für eine Nonne, dachte Raphaela. Sie blickte aus dem Fenster und richtete ihre Gedanken auf die geheimnisvollen Worte des Paters. Sie schloss die Augen und genoss das gleichförmige Brummen der Turbinen, die sie von ihrem Sitz aus sehen konnte. Es war wie das Rattern eines Zuges, wenn er über die Gleise fegte, oder das Rauschen der großen Reifen des Reisebusses, der sie in endlosen Stunden ans Ziel brachte – all diese Geräusche kannte sie aus ihrer Kindheit und sie machten sie durch ihre Gleichförmigkeit müde.
Das Klingeln über ihrem Sitz weckte sie aus einem kurzen Schlummer, und sie wurde aufgefordert, sich anzuschnallen. Fünfzehn Minuten später landete sie in Rom.
Freudig erregt nahm Raphaela ihr Gepäck vom Band und zog die Tasche wie eine kleine wackelige Ente aus Kindertagen hinter sich her. Schnell fand sie den Schalter der Mietwagenfirma und feilschte mit dem Angestellten über den Preis. Sie wurden sich einig, und der schwarzhaarige Autovermieter grinste sie zum Dank nett an und wünschte ihr eine erholsame Zeit in der Toskana. Mit ihrer Tasche im Gefolge erreichte sie den Wagen, verstaute alles im Kofferraum und stieg ein. Das Innere war durch die Sonne auf gut sechzig Grad erhitzt. Raphaela öffnete die Fenster und fuhr zügig los, sodass der Fahrtwind die erhoffte Erleichterung verschaffte. Sie kannte ja bereits den Weg, und das gab ihr die Gelegenheit, entspannter als beim letzten Mal zu fahren.
Wenige Wochen zuvor war sie diese Strecke zusammen mit Huber gefahren, und sie forschte in ihren Gefühlen, ob sie ihn vermisste oder nicht. Nach drei Stunden Fahrt erreichte sie die Abzweigung zum Kloster. Es schien ihr, als seien erst ein oder zwei Tage, nicht aber zwei Monate vergangen, seit sie hier gewesen war. Sie parkte den Wagen und ließ den Schlüssel stecken. Kein Mensch war zu sehen, und die Mönche des Klosters hielten gerade ihre Mittagsandacht.
Raphaelas Herz schlug schneller, als sie den Weg zum Hause Montesis hinaufstieg. Sie genoss das Knirschen der Steinchen unter ihren Füßen und den Ausblick über die grünen Hügel, die ihre Farbe allmählich in ein karges Braun wechselten, je näher der Juli herankam. Dennoch war die Hitze auf dem Land leichter zu ertragen als in der Stadt. Raphaela begann zu
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