Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe
passieren.
Kurzerhand bog Schneider in der Nähe von Salzburg von der Autobahn ab. Bukowski reagierte nicht und ging davon aus, dass Schneider einen Rastplatz suche. Richard fuhr tiefer in die spärlich bewohnten Gebiete hinein. Die Dämmerung war fortgeschritten, als er eine kleine Abzweigung von der Landstraße fand und sie bis an eine Stelle weiterfuhr, an der sie zu einem Feldweg wurde, der gelegentlich von Traktoren befahren wurde. Jetzt erst bemerkte Bukowski, dass sie in der absoluten Einöde standen. »Was tun wir hier?«, fragte er Schneider devot.
»Ich brauche eine Pause, und hier können wir ungestört reden, ohne dass uns jeder hört. Oder denken Sie, dass man als Mörder überall frei herumlaufen kann und noch herausposaunt, dass man soeben einen Menschen getötet hat?« Die Worte trafen Schneider selbst mit aller Wucht, und ihm wurde erschreckend klar, dass Bukowski ihn mit großem Vergnügen des Mordes beschuldigen würde, um seinen eigenen Kopf aus der Schlinge zu ziehen. Die Gedanken überschlugen sich in Schneiders Kopf: Hat es Zeugen der Gespräche zwischen mir und Bukowski gegeben? Nein. Taucht der Name Bukowski irgendwo im Zusammenhang mit mir auf? Nein. Schneider hatte die Flugtickets auf seinen Namen gebucht, und der Mann, der den Wagen gemietet hatte, hieß H. Himmler. Schneider lachte über sein eigenes Genie. Er wandte sich Bukowski zu und nahm die Lanze aus der Jacke hervor. Er betrachtete sie eingehend. Trotz der frischen Blutspuren war sie schön – vielleicht sogar gerade deswegen. Wie viel Blut war mit ihr vergossen worden? Blut von Verlierern und Taugenichtsen. Blut von Mördern und Räubern. Schneider stand Bukowski direkt gegenüber und hielt den kurzen Schaft der Lanze fest in beiden Händen. »Wie haben Sie das eigentlich gemacht?«, fragte er Bukowski, der noch immer nicht begriff.
»Was gemacht?«
»Na, den Wachmann getötet?« Schneider hielt die Spitze der Lanze direkt vor den unteren Rand von Bukowskis Brustkorb, dort, wo unter der Haut ein Nervenbündel namens ›Sonnengeflecht‹ verläuft. Bukowski blickte Schneider an, und was er in dessen Augen sah, ließ ihn erschaudern. Er hatte das Gefühl, dem Teufel ins Angesicht zu blicken. Er senkte den Kopf und schaute auf die Lanze herab, die mit der Spitze auf ihn gerichtet war. Sein Mund stand leicht geöffnet, und sein Doppelkinn warf sich in Falten. Er hatte diesen uralten Speer zunächst für eine Reliquie, einen heiligen Gegenstand gehalten – bis zu dem Augenblick, da sie in seiner eigenen Hand zu einer tödlichen Waffe geworden war.
Es war seinem angeschlagenen Gemütszustand zuzuschreiben, dass er trübe erfasste, welches sein Schicksal an diesem Abend würde sein werden. Allmählich setzte sich die vage Erkenntnis durch, dass er diesen Wald nicht mehr lebend verlassen würde. Just als ein Käuzchen den ersten Schrei durch den Wald schickte, legte Schneider sein ganzes Gewicht in die Spitze der Lanze. Bukowski stand vor ihm wie ein Baumstamm, unbeweglich und fest verwurzelt. Das scharfe Metall zerriss erst das Baumwollhemd, perforierte die Haut, kratzte am Brustbein vorbei und verschwand schmatzend in seinem Leib. Seine Augen weiteten sich im Erleben der Endlichkeit und ein letztes Röcheln entwich mit fauligem Atem diesem unseligen Kerl.
Schneiders Finger krallen sich noch um den Schaft der Waffe, als Bukowski zu Boden ging. Er sah sich nach allen Seiten hin um. Niemand war zu sehen. Das Käuzchen war verstummt. Er zog die Lanze nicht ohne Mühe aus Bukowski heraus und wischte sie am Hemd des Toten ab. Er eilte zum Wagen, bog den Scheibenwischer um und betätigte von innen die Waschanlage. Dabei hielt er die Lanze vor den feinen Strahl und wusch sie mit der Seifenlauge sauber. Anschließend ging er zu Bukowski und trocknete die Reliquie an einem anderen Teil von dessen Hemd. Er war angewidert von dem Gedanken, dass Bukowskis Blut seine Lanze befleckte.
Bukowski war ein schwerer Mann, und Schneider schaffte es mit äußerster Anstrengung, ihn abseits des Weges ins Gebüsch zu zerren. Er nahm ihm die Ausweispapiere und alle Wertsachen ab, damit er, wenn man ihn verwest finden würde, als Opfer eines Raubmordes gelten würde. Er fühlte sich sicher, obgleich er keine Routine mit dieser Art von Kriminalität hatte. Gut gelaunt nahm er in dem Wagen Platz. Die Lanze hatte er in sein eigenes Sakko eingewickelt, da die Lederjacke blutverschmiert neben Bukowski lag. Er wendete, bog auf die Landstraße ab und fuhr den
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