Hüter der heiligen Lanze - Gesamtausgabe
Weg zurück, der ihn zur Autobahn brachte.
In Frankfurt stellte er den Wagen mitten in der Nacht bei der Verleihfirma ab und warf die Schlüssel in einen bereitgestellten Briefkasten. Sein eigener Wagen parkte zwei Straßen entfernt, sodass er gegen drei Uhr dreißig zu Hause war. Er fühlte sich müde und erschöpft, obgleich eine heimliche Quelle ihm Kraft zu geben schien. Unverzüglich ging er ins Bad und wusch die Lanze mit aller Sorgfalt unter fließendem Wasser ab. Er reinigte die Ritzen der Drähte, die die Fragmente zusammenhielten, und polierte die goldene Fläche der zweiten Abdeckung. Zum Schluss nahm er ein feines Handtuch, trocknete und polierte jeden Millimeter damit. Im Bad bewunderte er sein Spiegelbild. Er war am Ziel seiner Träume. Diese Lanze hatte im Laufe der Jahrhunderte vielen Menschen das Leben gekostet, und alle hatte es mit Sicherheit verdient. Nur die Starken, die nach dem Gesetz der Evolution überleben würden, bekamen die Erlaubnis, diese Lanze in den Händen zu halten und sich mit ihrer Macht zu vereinen.
Fast zärtlich berührte er die Lanze an der Spitze und führte sie zu seinem linken Zeigefinger. Endlich war es soweit. Er wollte es genauso machen, wie es in den Tagebüchern beschrieben war und ritzte einen tiefen Schnitt in seine Haut. Er spürte keinerlei Schmerz, nur Wollust. Die Genugtuung, endlich die Macht des ewig Starken in sich zu vereinen, schien die Schmerzleitung außer Kraft zu setzen. Er wischte sein Blut von der Lanzenspitze ab, aber nicht vollständig. Ein Rest sollte darauf bleiben. Er hatte Blutsverwandtschaft mit all denen geschlossen, die durch die Macht der Reliquie siegreich waren. Nach ihrem ersten Sieg auf Golgatha über den angeblichen Sohn Gottes, wurden unendlich viele weitere Siege mit ihr errungen – und auch er würde von nun an unbezwingbar sein.
Nach dem Studium der Tagebücher und der Unterlagen, die Blome zusammengetragen hatte, war er sich sicher: Nur fromme Spinner sahen in der Lanze ein Instrument himmlischer Vorsehung, mit dem verhindert werden sollte, dass Christus am Kreuz die Beine gebrochen wurden. Ihm war egal, ob dies der Wahrheit entsprach oder nicht. Was ist schon Wahrheit? Gibt es eine Wahrheit, eine die universelle Gültigkeit hat? Schneider glaubte an jene Wahrheit, dass die Lanze übernatürliche Fähigkeiten besaß, die sie auf ihren Besitzer übertrug und diesen zu Ruhm und Ansehen führte. Durch die Lanze würde er, Dr. Richard Schneider, zu einem Günstling der unsichtbaren Kräfte avancieren. Jetzt, da er sie in den Händen hielt und sein Blut mit dem der Mächtigen verbunden hatte, würde sein Leben in neue siegreiche Dimensionen vorstoßen. Die Macht wäre sein: Macht über die Unwegsamkeiten des Lebens, Macht über finanzielle Not, über Krankheit, ja, Macht über Gott.
Schneider ließ das Blut auf seinem Finger antrocknen und ging in den Keller hinunter. Er besaß dort einen großen, begehbaren Safe, in dem er alle Wertsachen aufhob: Bargeld, Schmuck und vier oder fünf Bilder, die er für zu wertvoll hielt, als dass er sie an die Wand hängen wollte. In seiner Besessenheit, Vermögen anzuhäufen und mit niemandem zu teilen, hatte er die raffinierteste Sicherheitstechnik, die auf dem Markt zur Verfügung stand, in seinem Keller einbauen lassen. Niemand außer ihm kannte die Kombination des Safes. Überdies war der Safe nicht als solcher zu erkennen. Die Tür war sorgfältig in eine Wand eingebettet, die mit grobem Rauputz bestrichen war, und es gab nur eine kleine Stelle innerhalb dieser rauen Oberfläche, in die ein winziger Schalter eingebaut war. Und den kannte nur er. Hielt er seinen Daumen davor, öffnete sich die Wand an einer anderen Stelle, sodass ein kleines Display mit Tasten sichtbar wurde. Der Code wiederum bestand aus einer Kombination aus Zahlen und Buchstaben, die Schneider niemandem verriet und die nirgends schriftlich festgehalten wurde. Das war auch nicht nötig, denn wenn Richard Schneider sich etwas gut merken konnte, dann waren es Zahlen. Die Firma indes, die seinerzeit den Safe installiert hat, war pleite und es gab niemanden auf der Welt, außer Schneider, der von der Existenz des Safes wusste. Den Code, den die Firma seinerzeit bereitgestellt hatte, wurde von ihm noch am selben Tag geändert. Auch seine Frau wusste nichts davon. Es hatte sie nicht interessiert, solange sie sein Geld mit vollen Händen ausgeben konnte. Nachdem sie ihn verlassen hatte, war er froh über seine Vorsicht
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