Hüter der Macht
Tessa hinter der Säule hervor. Sie hatte Lionetto gut im Blick und sah im nächsten Moment, dass er ein rechteckiges, etwa unterarmlanges und handbreites Päckchen in der Hand hielt und von allen Seiten betrachtete. Es war mit grobem dunkelbraunen Tuch umwickelt, das Lionetto nun entfernte. Doch noch immer war der Inhalt des Päckchens nicht zu erkennen. Er war ein zweites Mal eingepackt, diesmal in ein kostbar aussehendes goldfarbenes Tuch mit einer schillernden roten Schleife.
»Herrlich!«, stieß Vasetti überrascht hervor und stellte das Päckchen auf ein kleines Tischchen. »Das scheint mir ein Geschenk der besonderen Art zu sein. Irgendwer wird mir seinen Dank erweisen wollen …«
Erwartungsvoll löste er die Schleife und schob das Tuch zur Seite. Doch dann trat er erschrocken einen Schritt zurück und gab den Blick frei auf das, was er gesehen hatte.
Tessa hielt sich entsetzt die Hand vor den Mund, damit sie nicht aufschrie. Zum Vorschein gekommen war eine kostbar aussehende dunkel glänzende Schatulle mit einer Vertiefung im Deckel. Und in dieser Vertiefung waren, aufgespießt auf Nägel, ein abgetrennter Fischkopf und rundherum – sie musste an sich halten, um nicht zu würgen – sechs Augen befestigt!
Vasetti rührte sich nicht. Er schien zu überlegen, was er tun sollte. Dann trat er wieder vor und legte die Finger vorsichtig auf den Verschluss der Schatulle. Wieder wartete er, doch schließlich drückte er auf den Schließmechanismus, und der Deckel sprang auf. Einen winzigen Augenblick lang sah Tessa etwas Längliches von weißgrauer Farbe – und dann war plötzlich alles voller Blut.
Jetzt konnte Tessa nicht mehr an sich halten. Ein Schreckensruf entfuhr ihr, doch da Lionetto Vasetti selbst wie am Spieß brüllte, hörte er sie nicht. Stattdessen starrte er, während das Blut von seinen Händen auf die Steinplatten tropfte, mit weit aufgerissenen Augen auf das, was die Schatulle neben dem Blut und dem in sich zusammengefallenen grauweißlichen Etwas noch enthielt. Dann stützte er sich gegen eine der Säulen des Innenhofs und erbrach den Wein und das Essen, das er erst vor Kurzem zu sich genommen hatte. Aufgeschreckt lief die Dienerschaft aus den Wirt schaftsräumen zusammen. Auch Rutino war unter ihnen.
»Nimm die Schatulle und wirf sie ins Feuer, Rutino!«, stieß Lionetto keuchend hervor, während er fortwankte. Wie von Sinnen versuchte er, das Blut von Gesicht und Händen zu wischen. »Ins Feuer damit, hörst du! Und wage ja nicht, einen Blick auf ihren Inhalt zu werfen. Sie soll verbrennen! Nur Asche soll übrig bleiben von ihr!«
»Allmächtiger! Und du hast alles mit angesehen?«, stieß Sandro hervor, als er Tessa wenige Tage später nach dem Kirchgang wiedersah. Sie hatte ihm von dem Vorfall im Palazzo der Vasetti berichtet. Sandro achtete peinlichst darauf, dass sie in der Menschenmenge untertauchten, durfte er doch nicht riskieren, dass Lionetto sie zusammen sah. »Aber das geschieht diesem Schweinehund recht!«
»Mir geht dieser Fischkopf nicht aus dem Kopf. Und dann diese sechs Augen! Schauerlich! Weißt du, was das bedeuten könnte?«, fragte sie mit zitternder Stimme. Der Winter war kalt geworden und ein böiger Wind fegte über den Platz vor der Kirche.
Sandro schüttelte den Kopf. »Ich kann mir keinen Reim darauf machen.«
»Vielleicht gibt es eine Fehde zwischen den Vasetti und einer anderen angesehenen Familie? Findest du nicht auch, dass es wie ein Racheakt aussieht?«
Sandro zuckte mit den Achseln. »Hat Vasetti eigentlich wieder versucht, dir nachzustellen?«, erkundigte er sich wie nebenbei.
»Gottlob nein! Ich habe seit einigen Tagen sogar das Gefühl, dass er mir aus dem Weg geht.«
»Ich bin sicher, du hast nichts mehr von ihm zu befürchten.« Sandro lächelte sie an.
»Woher willst du das wissen?«, fragte Tessa.
»Ach, das ist nur so ein Gefühl«, sagte er hastig und senkte den Blick.
Plötzlich kam er sich schäbig vor. Es war das erste Mal, dass er Tessa belügen musste. Doch es war undenkbar, sie in das einzuweihen, was in der Zwischenzeit alles geschehen war. Dass er ihretwegen im Kerker gesessen hatte und dass er um ein Haar sein Leben verloren hätte, durfte sie genauso wenig erfahren wie die Tatsache, dass hinter Lionettos Geschenk niemand anders als Cosimos Cousin stand, der Vasetti damit eine Drohung gesandt hatte, die dieser so schnell nicht vergessen würde.
Noch immer hörte Sandro das »Palle, palle!«, den Schlachtruf der Medici,
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