Hüter der Macht
Glockenturm. Von der gleißenden Mittagssonne, die Mitte September noch immer mit sengender Kraft vom Himmel brannte, konnte Sandro hinter den dicken Mauern weder etwas spüren noch etwas sehen. Nur von irgendwo weit oben, wo sich der Turm zu einem doppelten Zinnenkranz weitete, drang ein schwacher Lichtschein durch den Schacht zu ihm herunter.
Am frühen Morgen hatte Matteo an die Tür zu Sandros Versteck geklopft. Er hatte noch im Bett gelegen und zwischen Tag und Traum versucht, die Erinnerung an Tessas Leidenschaft in sich wachzuhalten und dem betörenden Geschmack ihrer Haut auf seinen Lippen nachzuspüren.
»Sandro, mach auf! Ich muss dringend mit dir sprechen! Es gibt wichtige Neuigkeiten!«
Zuerst hatte er nicht glauben wollen, dass der Hauptmann der Palastwache Matteo in der Tavola aufgesucht und ihm ausgerichtet hatte, dass Cosimo umgehend einen gewissen Sandro Fontana zu sprechen wünsche. Er solle sich am Mittag bei der Palastwache melden. Sandro hatte bei Ilarione de’
Bardi nachgefragt, ob auf das Wort dieses Hauptmanns Verlass sei. Und auch als dieser ihm versichert hatte, dass Federigo Malavolti ein Mann von Ehre sei, hatte er sich nur widerstrebend auf den Weg zum Palazzo della Signoria gemacht. Die ganze Aktion konnte eine Falle sein, dessen war er sich nur zu gewiss.
Während er hinter Malavolti den Turm hochstieg, sprach er sich selbst Mut zu. Schließlich hatte er keine andere Wahl, wenn er Cosimo helfen wollte – und das stand außer Frage. Er musste einfach das Risiko eingehen, dem Hauptmann zu vertrauen.
Wenig später hatten sie die schwere Bohlentür auf dem Treppenabsatz des Glockenturms erreicht. Ohne zu zögern, schloss der Hauptmann die Tür zur Kerkerzelle auf.
»Klopft gegen die Tür, wenn Ihr Euer Gespräch mit Ser Cosimo beendet habt«, sagte er.
Sandro begnügte sich mit einem Nicken und trat durch die eisenbeschlagene Tür in die kleine Zelle. Unwillkürlich zuckte er zusammen, als sie sich mit einem dumpfen Laut hinter ihm schloss. Noch waren die Erinnerungen an seine eigene Zeit im Kerker lebendig.
Cosimo erhob sich von seiner Pritsche. »Sandro! Also hat der Lump von Gonfaloniere wenigstens diesmal Wort gehalten. Lass uns hoffen, dass es auch weiterhin so bleibt! Komm, nimm den Hocker und setz dich zu mir! Wir haben eine Menge zu bereden.«
Sandro gehorchte und bemühte sich um ein Lächeln, damit Cosimo ihm sein Erschrecken nicht ansah. Wie hatte dieser mächtige Mann sich verändert! Grau und eingefallen sah sein Gesicht aus! Und seine Bewegungen waren die eines alten Mannes!
»Steht Tolentino verlässlich auf unserer Seite? Hat er getan, wozu ich ihn aufgefordert habe?«, erkundigte sich Cosimo.
Sandro nickte. »Der Condottiere hat nicht einen Augenblick lang gezögert. Er lagert mit seinen Söldnern weniger als einen halben Tagesmarsch von Florenz entfernt und wartet auf Eure Befehle. Und dasselbe gilt für die Bauernmiliz, die Euer Cousin und ich in den vergangenen Tagen im Mugello ausgehoben haben. Es ist zwar kein überwältigend großes Heer, das Ihr zur Unterstützung herbeirufen könnt, aber es sollte ausreichen, wenn zusätzlich noch Eure Getreuen in der Stadt zu den Waffen greifen.«
»Gut zu wissen«, sagte Cosimo erleichtert. »Aber ich hoffe, dass wir nicht zu einem Umsturz gezwungen sein werden. Es gibt gewisse Anzeichen, dass die Balia der Forderung von Rinaldo degli Albizzi, mich zum Tode zu verurteilen, nicht so unterwürfig folgt, wie er es wohl erwartet hat. Er war eben noch nie ein meisterlicher Stratege, ja nicht einmal ein mittelmäßiger!« Er lachte, aber es klang freudlos. »Jedenfalls hat Bernardo Guadagni klammheimlich das Lager gewechselt und sich von mir kaufen lassen. Darum musste ich so dringend mit dir sprechen. Er will zuerst sein Gold sehen, bevor er sich an seinen Teil unserer Abmachung hält. Du musst es aus San Marco holen und ihm bringen, aber auf keinen Fall in den Palazzo della Signoria, sondern in seinen Privatpalast. Seine Frau wird das Geld in Empfang nehmen.«
Jetzt verstand Sandro auch, warum Cosimo ausdrücklich ihn und nicht etwa Ilarione de’ Bardi oder seinen alten Freund Poggio Bracciolini hatte sprechen wollen. Außer Averardo und Lorenzo wusste nur noch er von den mit Tausenden Goldflorin gefüllten Säcken, die sich in der Obhut der verschwiegenen Mönche von San Marco und San Miniato al Monte befanden. Aber Lorenzo beschützte Cosimos Familie im fernen Venedig und sicherte, sollte es zum Schlimmsten kommen,
Weitere Kostenlose Bücher