Hüter der Macht
gleichzeitig vom Schicksal so unbarmherzig voneinander getrennt worden zu sein«, sagte sie mitfühlend. »Denk daran, was dein Sandro dir geschrieben hat! Ihr dürft hoffen, dass die Verbannung viel kürzer sein wird, als man ursprünglich festgelegt hat.«
Tessa wischte sich die Tränen aus den Augen. »Meinst du wirklich, dass er das nicht nur geschrieben hat, damit ich nicht verzweifle?«, fragte sie schniefend.
»Nach allem, was du mir von deinem Sandro erzählt hast, ist er ein Mann, auf dessen Wort und Tat Verlass ist, nicht wahr?«
»Ja, das ist er ganz bestimmt!«, versicherte Tessa und sie konnte schon wieder ein wenig lächeln.
Tessas Hoffnung auf ein vorzeitiges Wiedersehen erhielt neue Nahrung, als Ende November abermals ein Brief von Sandro eintraf. Darin teilte er ihr mit, dass die neu gewählte Signoria Cosimo und ihm die Erlaubnis erteilt habe, die Zeit der Verbannung in Venedig verbringen zu dürfen. Er schrieb, dass man sie in der Lagunenstadt schon erwarte und dass sie sich dort der Gastfreundschaft der Mönche von San Giorgio Maggiore erfreuen würden.
Venedig! Tessa versank in Erinnerungen. Sie war nie auf der kleinen Insel in der Lagune gewesen, auf der das Benediktinerkloster lag, aber oft hatte sie über den breiten Kanal geschaut und sich gewünscht, einmal hinüberzufahren, um dann zurückzuschauen auf die sich im Wasser spiegelnde Stadt mit dem stolzen Campanile und den vielen Palazzi. Und jetzt war Sandro dort, wo sie viele Jahre ihres Lebens verbracht hatte. Wie grausam das Schicksal doch war!
Dennoch – Tessa zog viel Kraft und Hoffnung aus Sandros Briefen. Jeden Abend, wenn sie in ihrer Kammer war, holte sie sie aus dem strohgefüllten Sack ihres Bettes hervor und las sie im Schein eines Öllichtes. Bald kannte sie die Briefe auswendig. Seine Zeilen mit ihren innigen Liebesbekundungen vor Augen zu haben war für sie wie ein unsichtbares Band, das ihr Herz und ihre Seele über die weite Ferne hinweg mit ihrem geliebten Sandro vereinte.
Doch dann, an einem regnerischen Nachmittag Mitte Dezember, zerstoben all ihre Hoffnungen, Sandro in absehbarer Zukunft wieder in Florenz zu wissen und ihn in ihre Arme schließen zu können. Es war der Tag, an dem Fiametta einen grauenvollen Tod sterben sollte.
10
E ine klamme Kälte zog durch die dicken Mauern des Palazzo und Fiametta hatte es sich in ihrem gepolsterten Sessel mit Fußschemel nahe am dreibeinigen Kohlenbecken bequem gemacht.
Heute reichte ihr die Wärme, die unter dem reich verzierten Abdeckgitter der dicken Glutschicht entströmte, jedoch nicht aus und so musste Tessa einen mit glühenden Kohlen gefüllten Eimer aus der Küche nach oben in ihr Gemach schleppen und ihr zwei heiße und mit Tüchern umwickelte Backsteine im Rücken unter die Kissen schieben.
»Bring mir meinen Likör!«, rief sie ungeduldig und zog die warme Wolldecke höher, die Tessa ihr über die Beine gelegt hatte.
Tessa seufzte leise, während sie an die Kommode trat, wo die Karaffe mit Fiamettas Lieblingslikör stand. Sie füllte ein Kristallglas mit der abscheulich süßen Flüssigkeit und reichte es ihrer Herrin.
»Setz dich zu mir!«, befahl Fiametta.
Tessa holte einen einfachen Schemel heran. Sie wusste, was jetzt folgte. Tessa würde an ihrem Likör nippen und endlos darüber lamentieren, wie schlecht sie es hatte und wie sehr sie es bereute, Lionetto Vasetti geheiratet zu haben. »Warum habe ich nicht länger gewartet? Bestimmt wäre bald der Richtige gekommen, der mir alle Wünsche von den Augen abliest?«
Tessa unterdrückte ein Gähnen. Gelangweilt sah sie zum Fenster hinaus. Es hatte angefangen zu regnen. Dicke Tropfen prasselten gegen die Scheiben. Plötzlich stutzte sie. Warum redete Fiametta nicht weiter?
Sie blickte ihre Herrin an und erschrak.
»Was ist mit Euch?«
Fiametta starrte ihre Zofe an. Ihr Mund stand halb offen und sie stieß erstickte Laute hervor. Das Glas entglitt ihrer Hand und der Rest des Likörs ergoss sich über die Decke.
»Herrin!«, schrie Tessa entsetzt. Sie sprang auf und trat einen Schritt zurück. »Habt Ihr Euch verschluckt?«
Fiamettas Gesicht lief blau an und verzerrte sich wie unter entsetzlichen Schmerzen. Röchelnd bäumte sie sich auf. Mit einer Hand griff sie sich an die Kehle. Sie versuchte aufzustehen, aber es gelang ihr nicht.
Noch während Tessa verzweifelt überlegte, was zu tun sei, sackte Fiamettas schwerer Körper zur Seite und der Sessel kippte um. Am Boden liegend, krümmte sie sich
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