Hüterin der Nacht: Roman (German Edition)
Mauer herum. Der Wind schlug mir heftig ins Gesicht, und der Regen schien auf meiner Haut zu Eis zu gefrieren. Der Vampir war am anderen Ende des Gebäudes stehen geblieben und blickte sich um. Als er in meine Richtung sah, zuckte ich zurück und traute mich kaum zu atmen, obwohl mein Verstand mir sagte, dass er mich auf keinen Fall gesehen haben konnte. Denn ich besaß nicht nur die Gene von Vampiren, sondern verfügte zusätzlich über eine Reihe ihrer Fähigkeiten. So konnte ich mich beispielsweise in die Schatten der Nacht hüllen, besaß ihren Infrarotblick und ihre blitzschnelle Geschwindigkeit.
Eine Tür knarrte. Ich riskierte einen weiteren Blick. Eine Metalltür stand offen, und der Vampir war nirgends zu sehen.
Eine Einladung oder eine Falle?
Ich wusste es nicht, aber ich würde ganz sicher kein Risiko eingehen. Jedenfalls nicht allein.
»Rhoan, er hat Gebäude Nummer vier betreten. Durch den Hintereingang rechter Hand.«
»Warte auf mich, bevor du hineingehst.«
»Ich bin vielleicht tollkühn, aber nicht dumm.«
Er lachte wieder. Ich glitt um die Ecke und schlich zur Tür, die von einer Windböe ergriffen und gegen die Backsteinmauer geschleudert wurde. Der Knall hallte durch die Nacht. Ein seltsam verlorenes Geräusch.
Ich erstarrte und konzentrierte mich auf mein Werwolfgehör, um die Geräusche, die der Wind zu mir herüberwehte, zu analysieren. Aber sein lautes Heulen übertönte einfach alles andere.
Ich witterte nichts außer Eis, Alter und Verlassenheit. Wenn es diese Gerüche überhaupt gab und sie nicht meiner blühenden Fantasie entsprangen.
Doch in mir verstärkte sich das Gefühl, dass etwas nicht stimmte. Ich rieb meine Arme unter der Lederjacke und hoffte inständig, dass mein Bruder bald hier war.
»Okay«, sagte Rhoan endlich. Ich fuhr vor Schreck zusammen, als seine Stimme so plötzlich in mein Ohr drang. »Ich bin vorne. Der Haupteingang ist verschlossen, aber einige Fensterscheiben sind zerbrochen. Ich gehe jetzt hinein.«
»Riechst du irgendjemand außer unserem Vampir?«
»Nein.« Er zögerte. »Du?«
»Nein. Aber hier ist irgendetwas oder irgendjemand anders, der sich schlecht anfühlt.«
Er hinterfragte mein Gefühl nicht. Im Laufe der Jahre hatte mein Gespür für Schwierigkeiten uns ebenso häufig gerettet, wie es uns überhaupt erst in etwas hineingeritten hatte. Anders war jetzt, dass meine sich entwickelnde Fähigkeit zum Hellsehen uns darauf vorbereitete, mit welcher Art von Schwierigkeiten wir zu rechnen hatten, und wir es nicht erst auf die harte Tour herausfinden mussten.
Deshalb war das Hellsehen vielleicht doch ganz praktisch, egal wie frustrierend es war.
»Dann nimm den Laser«, sagte er. »Lieber Vorsicht als Nachsicht.«
Ich griff in meine Manteltasche und ließ die neueste Errungenschaft in Sachen Lasertechnik in meine Hand gleiten. Es handelte sich um eine handtellergroße Waffe, die in der Lage war, eine dicke Backsteinmauer zum Einsturz zu bringen. Ganz zu schweigen davon, dass sie ziemlich hässliche Auswirkungen auf Menschen wie auf Nichtmenschen hatte.
»Wenn wir mit dem Laser auf den Vampir schießen, bevor Jack ihn nach seinem Erzeuger befragen konnte, zieht er uns das Fell über die Ohren.« Denn der Erzeuger war für den Vampir verantwortlich, und wenn er sein Baby wildern ließ, hatte er damit sein Todesurteil unterschrieben.
»Seine Wut ist mir immer noch lieber als eine tote Schwester.«
Ich grinste. »Du hast nur keine Lust, deine Wäsche selbst zu waschen.«
»Ich könnte Liander überreden, für mich zu waschen. Aber ich würde deine charmante, fröhliche Art am frühen Morgen vermissen.«
»Solange du mich gleich mit einem Kaffee versorgst, ist alles gut«, erwiderte ich milde. »Ich würde mich nicht darauf verlassen, dass Liander sich um deine Wäsche kümmert. Als ich ihm das letzte Mal begegnet bin, schien er ganz schön genervt von dir zu sein.«
»Ja. Na ja, er sollte eben nicht versuchen, mich unnötig einzuschränken.«
»Haben wir genau diese Unterhaltung nicht schon vor vier Monaten geführt?« Ich spähte kurz durch die Türöffnung. Und sah nichts als Dunkelheit. Ich blinzelte und schaltete auf Infrarotsicht. Immer noch nichts außer etwas herumliegendem Abfall, ansonsten Leere. »Ich bin bereit, hineinzugehen.«
»Ich auch.« Er zögerte. »Und ja, wir haben genau diese Unterhaltung vor vier Monaten geführt.«
»Hast du so mit ihm gesprochen, wie ich es dir gesagt hatte?«
»So ähnlich.«
Was so viel hieß
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