Hüterin der Seele -: Sea Haven 2 (German Edition)
abgewandt, als sie den Safe abschloss.
4.
S owie Stefan aus der Galerie in die kühle Nacht hinaustrat, wusste er, dass er in den größten Schwierigkeiten seines bisherigen Lebens steckte. Vielleicht hatte sein Leben noch nie so sehr in Gefahr geschwebt. Es ging ihm nicht um den Scharfschützen, der ihn im Fadenkreuz hatte, oder um das Jucken im Nacken, das ihm sagte, dass sich der Todesschütze eindeutig in dem kleinen Küstenort Sea Haven aufhielt. Er war Agent und mehr oder weniger von Geburt an dazu ausgebildet worden, Menschen, seine Umgebung und alles und jedes als Werkzeuge zu benutzen – und trotzdem hatte er sich instinktiv und ohne jede Überlegung zwischen Judith Henderson und die Kugel eines Scharfschützen gebracht, statt ihren Körper als Schutzschild für sich zu nutzen.
Er erstarrte vor Schreck. Was zum Teufel hatte er gerade getan? Was war los mit ihm? Da stimmte doch etwas nicht. Er stand total ungeschützt da, schirmte sie mit seinem Körper ab und war in ihren Duft eingehüllt. Der Wind zog an ihren Haaren und wehte Strähnen nach hinten, die verführerisch über seine Haut glitten. Sein eigenes Vorgehen verblüffte ihn, schockierte ihn, entsetzte ihn sogar, doch seine Füße wollten sich nicht von der Stelle rühren. Eine schnelle Bewegung genügte und er wäre auf der anderen Seite und hätte ihren Körper zwischen sich und den Wasserturm gebracht, auf dem, wie er mit Sicherheit wusste, Petr Ivanov mit einem Gewehr und einem Zielfernrohr lag. Petr war da – Stefan konnte ihn fühlen. Er fühlte die glitschige Brühe einer Bedrohung, die ihn jedes Mal warnte, eine seiner zahlreichen übersinnlichen Gaben. Trotzdem rührte er sich nicht vom Fleck. Wo zum Teufel war sein eingefleischter Selbsterhaltungstrieb geblieben? Jahre des Survivaltrainings? Sein gesamtes Know-how?
Warnglocken schrillten in seinem Inneren. Seine linke Handfläche juckte so grässlich, dass er sie an seinem Oberschenkel rieb. Er blieb, wo er war, als hätten seine Füße Wurzeln geschlagen. Sein Herz pochte und er schmeckte Leidenschaft in seinem Mund, eine Frucht, die ihm völlig fremd war, die er aber dennoch augenblicklich erkannte. Judith. Sie füllte die gesamte Leere in ihm aus. Irgendwie hatte sie sich in der kurzen Zeit, die er mit ihr verbracht hatte, in ihn verströmt und ihm etwas gegeben, was er sich nie ausgemalt hatte: Hoffnung. Sie stand für das Leben. Ein wirkliches Leben.
Ihm war bewusst, dass sich rechts von ihnen Menschen über den Gehsteig bewegten. Sie kamen aus der Richtung des Wasserturms. Er könnte es schaffen, die kleine Menge als Schild zu benutzen und einen Bogen zu schlagen, um hinter Ivanov zu gelangen. Wenn das klappte, würde er Ivanov zu seinem Bau zurückverfolgen und ihn töten. Die Beseitigung der Leiche würde nicht schwierig sein und das würde ihm Zeit geben, seinen Bruder zu finden, ohne befürchten zu müssen, dass er ihn einem Eliminator auslieferte.
Aber im Moment war es das oberste Gebot in seinem Leben, Judith zu beschützen. Er sorgte weiterhin dafür, dass sein Körper zwischen dem Scharfschützen und Judith war. Sein Verstand verlangte eine Antwort darauf, was zum Teufel er tat, aber sein Körper rührte sich nicht vom Fleck.
Er bezweifelte, dass Ivanov einen Schuss auf ihn abgeben würde, selbst dann, wenn er eine freie Schusslinie hatte. Es war noch zu früh. Der Mörder wollte Lev. Sein Bruder war hier verschwunden und galt als tot, und Petr Ivanov kaufte es ihm nicht ab. Sein Plan bestand darin, beide Prakenskij-Brüder zu töten, nicht nur Stefan. Daher würde er nicht schießen, aber Stefans Selbsterhaltungstrieb hätte ihn trotzdem zwingen müssen, sich zu rühren. Doch das war ihm unmöglich und das grässliche Jucken in seinem Nacken wurde stärker.
Diese verfluchte Frau. Warum zum Teufel brauchte sie so lange? »Brauchen Sie Hilfe?«, erbot er sich höflich und blieb in der Rolle von Thomas Vincent.
»Das Schloss scheint zu klemmen.«
Judith warf ihm über ihre Schulter einen Blick zu und sein Herzschlag hätte beinah ausgesetzt. Das seidige Haar fiel ihr so ins Gesicht, dass es unglaublich verlockend war. Ihr Blick glitt über ihn und für einen Moment schien die Zeit stillzustehen. Er war nicht der Einzige, der Leidenschaft in seinem Mund schmeckte; sie stand auch in ihren Augen. In ihren früheren Gemälden hatte er Spuren von Feuer entdeckt und er hatte sich nicht getäuscht. Ganz gleich, wie gelassen und beherrscht sie sich gab – das Feuer war da,
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