Hüterin der Seele -: Sea Haven 2 (German Edition)
das Gefühl, ihrer nicht würdig zu sein.
»Ich glaube, das ist eine gute Idee«, stimmte Stefan ihr zu. »Wenn Sie nichts dagegen haben, werde ich mich jetzt ein Weilchen auf die Bücher konzentrieren.« Thomas Vincent wandte seine Aufmerksamkeit resolut den Büchern zu, die aufgeschlagen auf dem Schreibtisch lagen, während sich Stefan Prakenskij ausschließlich auf seine Umgebung und auf die Frau konzentrierte.
Die Vorderfront der Galerie bestand aus getönten Glasscheiben, die einen prachtvollen Ausblick auf das aufgewühlte Meer boten und gleichzeitig die Gemälde und Skulpturen vor der Sonne schützten. Tagsüber würde es schwierig, aber nicht unmöglich sein hineinzuschauen. Wenn nachts die Lichter brannten, würde man dagegen leicht hineinschauen können. Das Büro war vor Blicken geschützt und es gab vier sichtbare Ausgänge. Von dort aus gelangte man in den hinteren Arbeitsraum, der noch mehr Deckung bot und einen weiteren Ausgang hatte.
Er zuckte zusammen, als sich Judith an die Fensterfront begab und das Licht jedem Beobachter ihren genauen Standort zeigte. Er musste den Wunsch unterdrücken, sie unter irgendeinem Vorwand zu sich zu rufen, bloß damit sie nicht am Fenster stand. Sie war nicht in Gefahr – noch nicht –, aber sie würde es sein, falls Ivanov in der Nähe war. Der Mann hatte keinerlei Achtung vor dem Leben. Er war ein reiner Psychopath und er liebte seinen Job. Er lebte dafür, andere zu töten. Stefan war schon vor langer Zeit zu der Schlussfolgerung gelangt, dass der Mann zum Vergnügen tötete, nicht aus Pflichtbewusstsein. Er würde weder Judiths Glanz noch ihre Unschuld sehen, und wenn doch, dann würde es nichts ändern. Es könnte sogar zu seinem Vergnügen beitragen, ihr das Leben zu nehmen.
Stefan seufzte. Schon vor zwei Wochen hatte er begonnen, sich unauffällig in Sea Haven umzuschauen, um sich für seinen Auftrag vorzubereiten, ehe er ein Treffen mit Frank Warner arrangiert hatte. Er war bereits zahlreiche Male durch den Küstenort spaziert und hatte sich mit jeder Straße und mit jeder Gasse vertraut gemacht, mit jedem erdenklichen Versteck und Fluchtweg. Er war immer wieder auf der Schnellstraße auf und ab gefahren und hatte Seitenstraßen erkundet, die vom Meer wegführten, bis er wusste, dass er auf jeder einzelnen von ihnen im Dunkeln mit hoher Geschwindigkeit fahren konnte. Er hatte mehrere Fluchtwege vorbereitet und bereits einen Aufbewahrungsort für Geld und Reisepässe gefunden, die auf verschiedene Namen lauteten.
Petr Ivanov würde kommen, falls er nicht schon hier war. Stefan wusste, dass man ihm eine Falle gestellt hatte. Man vergeudete sein Können nicht darauf, für den unwahrscheinlichen Fall, dass ein Gefangener, dem eine geheime Abteilung der Regierung zum Ausbruch verhalf, eben den Agenten entwischen würde, die ihm bei der Flucht halfen, um dann den Babysitter für eine alte Freundin des Mannes zu spielen. Das war Unsinn. Er war nicht wegen Judith Henderson oder Jean-Claude La Roux nach Sea Haven geschickt worden – es ging darum, Lev Prakenskij zu finden und ihn zu eliminieren. Und sein Betreuer wusste mit Sicherheit, dass Ivanov auch ihn töten musste. Sie konnten Stefan nicht am Leben lassen.
Er rieb sich die Schläfen. Warum hatten sie beschlossen, zwei ihrer besten Agenten in den »Ruhestand« zu schicken? Wurde aus irgendeinem Grund eine Säuberungsaktion durchgeführt? Hatte irgendein Reporter die Wahrheit über die »Waisenhäuser« aufgedeckt, bei denen es sich in Wirklichkeit um Schulen gehandelt hatte, in denen Agenten und Todesschützen ausgebildet wurden? Mit der neuen Regierung und den Bündnissen, die geschlossen worden waren, könnte es den Interessen des Landes zuwiderlaufen, wenn diese Schulen entdeckt wurden.
»Kopfschmerzen?«, fragte Judith mitfühlend. »Ich habe Aspirin im Medizinschrank.«
Sie hatte ihn ebenso gründlich beobachtet wie er sie.
»Ich glaube, mir reicht es für heute, wenn es Ihnen nichts ausmacht. Es war eine weite Reise und ich habe nicht genug geschlafen.« Das würde ihm einen weiteren Vorwand geben, sie nach der Traktorfahrt wiederzusehen.
»Natürlich macht es mir nichts aus.« Er hatte gewusst, dass Judith so liebenswürdig sein würde. Er war ein Meister der Manipulation, in den besten Schulen ausgebildet, und in jeder Lektion war es um Leben oder Tod gegangen. Er hatte überlebt und jemand wie Judith hatte keine Chance gegen ihn. Er schmeckte Bitterkeit in seinem Mund und hielt den Blick
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