Hütet euch vor Harry
selten ein, weil er sie einfach als zu ultimativ einstufte.
Doch in ihrem Zustand war Sheila bereit dazu, diese Waffe zu benutzen.
Sie nickte, als sie sich entschlossen hatte, und ging den Weg zurück.
Das nächste Ziel war das Arbeitszimmer ihres Mannes.
Die Strecke kam ihr lang vor.
Nichts rührte sich.
Niemand kam.
Sie lauschte den eigenen Schritten nach, blieb dann aber im Flur stehen und schaute die Treppe hinab, die in den Keller führte, wo noch einmal zahlreiche Räume lagen.
Auch dort war es still.
Schatten und Licht wechselten sich ab. Sie suchte auf den Stufen nach Spuren, fand aber keine. War er nicht im Keller?
Sheila wollte nicht nachsehen. Nicht ohne Waffe, denn so mutig war sie nicht.
Sie wollte erst die goldene Pistole holen.
Bisher war alles gutgegangen. Sheila hoffte, daß sie auch in den nächsten Minuten durchhielt und sie keine Panik überkam. Wenn sie die Nerven verlor, war alles verloren.
Es waren nur wenige Schritte, die sie noch hinter sich bringen mußte.
Eine lächerliche Distanz, doch plötzlich kam alles anders. Es war nicht nur das Gefühl der Angst, das sie überschwemmte, etwas anderes war viel realer.
Sie sah die Tür, und sie sah, daß sie offen war.
Sheila aber wußte sehr genau, daß sie geschlossen gewesen war. Sie hatte das Zimmer zudem in den letzten Stunden nicht betreten.
Es gab nur eine Lösung, und die erschreckte sie. Außerdem wußte sie jetzt, daß es nicht mehr einfach sein würde, an die Waffe heranzukommen.
Sie kam sich vor, als hätte man sie allein in der Finsternis einer anderer Welt ausgesetzt, ohne jede Hilfe, ohne daß sich jemand um sie gekümmert hätte.
Nur allein…
Sehr allein sogar!
Aber nicht ganz, denn Sheila ahnte mehr, als sie es sah, daß sich hinter dem Türspalt etwas bewegte. Harry?
Bei Gott, er war es nicht, denn über dem Schloß schob sich aus der Düsternis des Arbeitszimmers etwas hervor, das sie zunächst nicht identifizieren konnte, sie aber an braune, abgefaulte, getrocknete Zweige erinnerte.
Nur waren es keine Zweige, die sich gebogen hatten, sondern etwas anderes, etwas viel Schaurigeres. Eine braune Knochenklaue…
***
Lady Sarah legte ihre Hand auf die Brust, als ich mit großen Schritten den Vorgarten durcheilte. »Gut, daß du kommst, John.«
Ich blieb vor ihr stehen. »Was ist denn? Was hast du? Ist etwas passiert?«
»Ja, mit Jane. Sie – sie ist wieder so komisch. Sie hat Kontakt oder was weiß ich.«
»Wo ist sie?«
»Oben in ihrem Zimmer.«
»Okay, dann laß uns gehen.«
Ich war schneller als Lady Sarah, zudem kannte ich mich in diesem Haus aus, als wäre es mein eigenes. Immer zwei bis drei Stufen auf einmal nehmend, hetzte ich die Stufen hoch, erreichte den ersten Stock und wandte mich scharf nach rechts, wo das Zimmer der Detektivin lag.
Ich sah sie nicht, ich hörte sie. Ihre Stimme drang durch die offene Tür.
Es waren schlimme Geräusche. Eine Mischung aus Stöhnen und Flüstern, als hätte sie etwas Furchtbares zu sehen bekommen, als würde sie malträtiert werden von unsichtbaren, mörderischen Kräften.
Ich blieb auf der Schwelle stehen.
Wieder lag Jane auf dem Bett. Die Arme hielt sie vom Körper gespreizt.
Ihre Hände schlossen sich zu Fäusten, öffneten sich wieder, schlossen sich erneut, und so ging das Spiel immer weiter.
Jane war völlig von der Rolle. Ihr Mund stand offen, sie atmete japsend.
Die Augen waren nicht mehr als leblose Kugeln ohne Glanz.
Sie kam mir vor, als würde sie sich jeden Augenblick übergeben müssen, aber noch hielt sie sich. Noch hatte die andere Kraft nicht die Überhand gewonnen.
Sie ächzte.
Ihre Arme schwangen hoch und wieder zurück. Im gleichen Rhythmus atmete sie ein und stieß die Luft wieder aus. Manchmal schnellte ihre Zunge aus dem Mund, bewegte sich hektisch im Kreis und fuhr wieder zurück. Ich schaute nicht mehr hin, sondern suchte die Gefahr. Sie war nicht vorhanden. Es gab keinen äußerlichen Grund, der Jane in diese Lage gebracht haben könnte.
»Was ist, Jane? Rede doch…«
Sie hatte meine Frage gehört, gab auch Antwort, allerdings ohne mich dabei anzuschauen.
»Er – er ist da. Harry ist gekommen. Hüte dich – hüte dich vor Harry.«
»Siehst du ihn?«
»Nein – nein, ich höre ihn. Ich höre das Schreien und Wimmern. Es sind die Kinder, John. Ich kann sie hören. Sie brüllen ihre Angst heraus. Sie werden getötet, sie werden alle getötet. Harry kennt keine Gnade. Er ist furchtbar. Ich kann ihn spüren, er ist des
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