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Hundert Jahre Einsamkeit

Hundert Jahre Einsamkeit

Titel: Hundert Jahre Einsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel Garcia Marquez
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seinem betäubenden, laugegescheuerten Ölgeruch zu vergehen. Kurz vor Amarantas Tod erlebte sie in ihrer Verranntheit einen Augenblick der Hellsicht und zitterte angesichts der Ungewißheit der Zukunft. Dann hörte sie von einer Kartenlegerin, welche die Zukunft las, und suchte sie heimlich auf. Es war Pilar Ternera. Sobald diese sie eintreten sah, kannte sie Memes geheimste Beweggründe. »Setz dich«, sagte sie. »Ich brauche keine Karten, um die Zukunft einer Buendía festzustellen.« Meme wußte nicht und würde es auch nie wissen, daß diese hundertjährige Wahrsagerin ihre Urgroßmutter war. Sie hätte es auch dann nicht geglaubt, als jene ihr unverblümt und schonungslos offenbarte, ihre rastlose Vernarrtheit sei nur im Bett zu stillen. Das war auch Mauricio Babilonias Standpunkt, doch Meme wollte es nicht glauben und schrieb es der einem Arbeiter eigenen, ungesunden Veranlagung zu. Dann dachte sie, diese Art Liebe vernichte die andere Liebe, da die Männer so veranlagt waren, daß sie ihren Hunger verschmähten, sobald ihr Appetit gestillt war. Pilar Ternera zerstreute nicht nur diesen Irrtum, sie bot ihr auch das alte Leinenbett an, auf dem sie Arcadio, Memes Großvater, empfangen hatte und später Aureliano José empfing. Überdies lehrte sie sie, unerwünschte Empfängnis durch Senfumschläge zu verhüten und empfahl ihr eine Reihe von Heiltränken, die im Falle von Widerwärtigkeiten »sogar Gewissensbisse« austrieben. Diese Unterredung flößte Meme den gleichen Mut ein, den sie am Nachmittag des Besäufnisses verspürt hatte. Im übrigen mußte sie wegen Amarantas Tod ihren Entschluß verschieben. Während der neun Nächte wich sie keinen Augenblick von der Seite Mauricio Babilonias, den die ins Haus geströmte Menschenmenge verwirrte. Dann kam die ausgedehnte Trauerzeit und die obligate Zurückgezogenheit, und so trennten sie sich eine Zeitlang. Das waren Tage von derartiger innerer Erregtheit, von so unwiderstehlichem Drängen und so viel verdrängtem Begehren, daß Meme an dem ersten Nachmittag, an dem sie ausgehen durfte, schnurstracks in Pilar Terneras Haus rannte. Widerstandslos gab sie sich Mauricio Babilonia hin, schamlos, formlos, dazu mit so natürlichem Freimut und so bewußter Einfühlung, daß auch ein argwöhnischerer Mann als er ihr Gebaren mit der reifsten Erfahrung hätte verwechseln können. Sie liebten sich zweimal in der Woche über drei Monate lang, beschützt von der unschuldigen Mitwisserschaft Aureliano Segundos, der ohne Böswilligkeit den Alibis seiner Tochter Glauben schenkte, nur um sie der Strenge ihrer Mutter zu entziehen.
    An dem Abend, an dem Fernanda die beiden im Kino überraschte, fühlte Aureliano Segundo sein Gewissen belastet und suchte Meme in ihrem Schlafzimmer auf, in das Fernanda sie gesperrt hatte, darauf vertrauend, daß sie bei ihm, wie sie es ihm schuldete, ihr Herz ausschütten würde. Doch Meme leugnete alles. Sie war ihrer Sache so sicher, sie war so verankert in ihrer Einsamkeit, daß Aureliano Segundo den Eindruck gewann, zwischen ihnen beiden sei alles aus, ihre Kameradschaft und Verschworenheit seien nichts als entschwundene Illusionen. Er gedachte mit Mauricio Babilonia zu sprechen, im Vertrauen darauf, als einstiger Arbeitgeber und Vorgesetzter könne er ihn von seinen Absichten abbringen, doch Petra Cotes überzeugte ihn davon, dergleichen gehe nur Weiber an, so daß er weiterhin in Unsicherheit schwebte und nur hoffen konnte, der Zimmerarrest werde seine Tochter von ihrer Trübsal heilen.
    Meme zeigte jedoch keinerlei Spuren von Kummer. Im Gegenteil, Ursula hörte im angrenzenden Schlafzimmer den ruhigen Atem ihres Schlafs, die Gelassenheit ihres täglichen Tuns, die Regelmäßigkeit ihrer Mahlzeiten und ihre gesunde Verdauung. Das einzige, was Ursula nach fast zwei Monaten Strafhaft neugierig machte, war, daß Meme nicht morgens badete wie alle anderen, sondern um sieben Uhr abends. Einmal wollte sie sie vor Skorpionen warnen, doch Meme, überzeugt, sie habe sie verraten, ging ihr so behutsam aus dem Weg, daß sie vorzog, sie nicht mit Naseweisheiten einer Ururgroßmutter zu quälen. Bei Einbruch der Nacht fielen die gelben Falter ins Haus ein. Jeden Abend bei der Rückkehr vom Bad fand Meme Fernanda in heller Verzweiflung Schmetterlinge mit der Mückenpumpe töten. »Es ist ein Verhängnis«, sagte sie. »Man hat mir mein ganzes Leben erzählt, Nachtfalter brächten Unglück.« Eines Abends, während Meme im Bad war, ging Fernanda zufällig in

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