Hundert Jahre Einsamkeit
Widerspruch zur Gier des Vergessens, die allmählich die Erinnerungen erbarmungslos zernagte, und zwar so sehr, daß zu jener Zeit, anläßlich eines neuen Jahrestags des Friedensvertrags von Neerlandia, etliche Abgesandte des Präsidenten der Republik nach Macondo kamen, um endlich den von Oberst Aureliano Buendía mehrmals abgelehnten Orden zu überbringen, und einen ganzen Nachmittag damit verloren, einen Menschen aufzustöbern, der ihnen sagen konnte, wo sie einen seiner Nachfahren finden konnten. Aureliano Segundo war versucht, ihn entgegenzunehmen im Glauben, es sei eine reingoldene Medaille, doch Petra Cotes überzeugte ihn von der Würdelosigkeit einer derartigen Handlung, als die Emissäre bereits Bekanntmachungen und Festreden für die Zeremonie vorbereiteten. Zu jener Zeit kamen auch die Zigeuner wieder, die letzten Erben von Melchíades' Wissenschaft, und fanden das Dorf so heruntergewirtschaftet und seine Einwohner so abgesondert von der übrigen Welt, daß sie, Magneteisen hinter sich herschleifend, wieder in die Häuser zogen, als handle es sich dabei um die allerneueste Entdeckung der babylonischen Weisen, und wieder die Sonnenstrahlen mit ihrer Riesenlupe bündelten; wiederum fehlte es auch nicht an solchen, die mit offenem Mund zusahen, wie Öfen umfielen und Kessel rollten, nicht an solchen, die fünfzig Centavos zahlten, um über eine Zigeunerin zu staunen, die ein künstliches Gebiß aus dem Munde nahm und es wieder einsetzte. Ein altersschwacher Zug, der niemanden brachte und niemanden mitnahm und nur an der verlassenen Station hielt, war das einzige, was von dem einst überfüllten Zug übriggeblieben war, an den Señor Brown seinen Sonderwagen mit Glasdach und Bischofssesseln angehängt hatte, sowie von den Obstzügen mit einhundertundzwanzig Güterwagen, deren Durchfahrt einen ganzen Nachmittag dauerte. Die Abgesandten der Kurie, die zur Überprüfung des Berichts über die seltsame Vogelsterblichkeit und die Opferung des Ewigen Juden eingetroffen waren, fanden Pater Antonio Isabel mit den Kindern »Blindes Huhn« spielend, und im Glauben, sein Bericht rühre vom Alterswahn her, entführten sie ihn in ein Asyl. Bald darauf schickten sie Pater Augusto Angel, einen Kreuzritter des neuen Aufgebots, unnachgiebig, tollkühn, furchtlos, der die Glocken eigenhändig mehrmals am Tag läutete, damit die Gemüter nicht erschlafften, der von Haus zu Haus ging und die Langschläfer weckte, damit sie zur Messe gingen; doch vor Ablauf eines Jahres verfiel er gleichfalls der Nachlässigkeit, die man mit der Luft einatmete, dem glühend heißen Staub, der alles altern ließ und verstopfte, der Schlaflust, welche die beim Mittagessen verspeisten Knödel während der unerträglichen Hitze des Schlummerstündchens in ihm weckten.
Nach Ursulas Tod versank das Haus wiederum in einen Zustand des Verfalls, aus dem es nicht einmal ein so entschlossener, kraftstrotzender Wille wie der Amaranta Ursulas retten konnte, die viele Jahre später, als sie bereits eine vorurteilslose, fröhliche und moderne, mit beiden Füßen im Leben stehende Frau war, Türen und Fenster öffnete, die bunten Ameisen, die bereits bei hellichtem Tag in der Veranda umherspazierten, ausrottete und vergeblich versuchte, den vergessenen Geist der Gastlichkeit neu zu beleben. Fernandas Klosterleidenschaft hatte Ursulas hundert stürmischen Jahren einen unüberwindlichen Deich entgegengesetzt. Nicht nur weigerte sie sich, die Türen zu öffnen, als der heiße Wind vorüber war, sie ließ auch, der väterlichen Vorschrift gemäß, sich zu Lebzeiten begraben, die Fenster mit Kreuzlatten zunageln. Der aufwendige Briefwechsel mit den unsichtbaren Ärzten endete mit einem Fehlschlag. Nach wiederholtem Aufschub schloß sie sich nach dem vereinbarten Tages- und Stundenplan in ihr Schlafzimmer ein, nur bedeckt mit einem weißen Leintuch, den Kopf nordwärts gerichtet, und um ein Uhr morgens spürte sie, wie ihr Gesicht mit einem von einer eisigen Flüssigkeit getränkten Handtuch bedeckt wurde. Als sie erwachte, schien die Sonne durchs Fenster, und ihren Körper zierte eine lange, bogenförmige Naht von der Leiste bis zum Brustbein. Doch noch bevor die ihr verschriebene Genesungsruhe verstrichen war, erhielt sie einen fassungslosen Brief von den unsichtbaren Ärzten, die ihr mitteilten, sie hätten sie sechs Stunden lang untersucht, ohne etwas zu finden, was den von ihr so oft und so genau beschriebenen Symptomen entspräche. In Wirklichkeit hatte ihre
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