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Hundert Jahre Einsamkeit

Hundert Jahre Einsamkeit

Titel: Hundert Jahre Einsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel Garcia Marquez
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in seinen Augen für Macondo bedeutet hatte, daß Aureliano, als er viele Jahre später ins Leben trat, glauben mußte, eine phantastische Lesart weiterzugeben, weil sie der von Geschichts- und Schulbüchern wiedergegebenen falschen diametral widersprach. In ihrem abgelegenen Kämmerchen, in das kein trockener Wind gelangte, kein Staub und keine Hitze, beschworen die beiden die atavistische Vision eines Greises mit einem Schlapphut mit Rabenschwingenkrempe, der viele Jahre vor ihrer Geburt mit dem Rücken zum Fenster von der Welt erzählt hatte. Gleichzeitig entdeckten beide, daß es dort immer März und immer Montag war, und nun begriffen sie, daß José Arcadio Buendía nicht so verrückt war, wie die Familie behauptete, sondern daß er als einziger in seiner Hellsicht die Wahrheit ahnte, daß auch die Zeit Zusammenstöße und Unglücksfälle erlitt, daß sie platzen und daher einen ewigen Splitter in einem Zimmer hinterlassen konnte. José Arcadio Segundo war es übrigens gelungen, die kryptischen Buchstaben der Pergamente zu entziffern. Er war sicher, daß sie einem Alphabet von siebenundvierzig bis dreiundfünfzig Schriftzeichen entsprachen, die getrennt kleinen Spinnen und Zecken ähnelten und in Melchíades' herrlicher Schönschrift zum Trocknen aufgehängten Wäschestücken glichen. Aureliano erinnerte sich, eine ähnliche Bildtafel in der englischen Enzyklopädie gesehen zu haben, weshalb er sie in sein Zimmer mitnahm, um sie mit der von José Arcadio Segundo zu vergleichen. In der Tat waren sie gleich. Zu der Zeit, als Aureliano Segundo auf die Idee mit der Rätseltombola kam, erwachte er eines Morgens mit einem Kloß in der Kehle, als verdränge er einen Weinkrampf. Petra Cotes deutete ihn als eines der von der schlimmen Lage verursachten zahlreichen Bedrängnisse, und jeden Morgen betupfte sie über ein Jahr hindurch seinen Gaumen mit Honig und gab ihm Rettichsaft zu trinken. Als der Knoten in seiner Gurgel ihn so bedrückte, daß ihm das Atmen schwerfiel, suchte Aureliano Segundo Pilar Ternera auf, da sie verschiedene Heilkräuter kannte. Die unverwüstliche Großmutter, die an der Spitze eines geheimen kleinen Bordells hundert Jahre erreicht hatte, glaubte nicht an heilenden Aberglauben, sondern zog vor, ihre Karten in der Angelegenheit zu befragen. Sie sah den Karokönig, die Kehle durchbohrt von der Klinge des Pikbuben, und schloß daraus, daß Fernanda durch die überholte Methode, sein Bildnis mit Nadeln zu spicken, händeringend versuchte, ihren Mann zur Rückkehr ins Haus zu bewegen, aber infolge magelnder Kenntnis dieser bösen Kunst ihm ein inneres Geschwür beigebracht hatte. Da von Aureliano Segundo nur ein Hochzeitsbild vorhanden war und alle Abzüge ins Familienalbum eingezogen waren, durchsuchte er, wenn Fernanda anderweitig beschäftigt war, das ganze Haus und fand schließlich tief hinten im Kleiderschrank ein halbes Dutzend Pessare in Originalverpackung. Im Glauben, die roten Gummiringe seien Zaubergeräte, steckte er einen davon in die Tasche, um ihn Pilar Ternera zu zeigen. Diese vermochte ihre Natur zwar nicht zu bestimmen, doch die Sache kam ihr so verdächtig vor, daß sie sich das ganze halbe Dutzend bringen ließ und es auf einem im Innenhof entfachten Reisigfeuer verbrannte. Um Fernandas angebliche Hexerei auszutreiben, wies sie Aureliano Segundo an, eine Gluckhenne zu befeuchten und lebend unter der Kastanie zu begraben, was er in so gutem Glauben tat, daß, als er die gewendete Erde mit dürrem Laub bedeckte, er sich bereits besser fühlte. Fernanda ihrerseits legte das Verschwinden der Pessare als Vergeltungsschlag der unsichtbaren Ärzte aus und nähte sich in ihr Leibchen eine Innentasche ein, in der sie die von ihrem Sohn neu erhaltenen Exemplare aufbewahrte.
    Sechs Monate nach der Beerdigung des Huhns erwachte Aureliano Segundo um Mitternacht von einem Hustenanfall und glaubte, von innen mit Krebszangen erwürgt zu werden. Nun begriff er, daß trotz aller vernichteten Zauberpessare und befeuchteten Beschwörungshühner die einzige, traurige Wahrheit die war, daß er starb. Er sagte es niemandem. Von der Angst gequält, er könne sterben, ohne Amaranta Ursula nach Brüssel geschickt zu haben, arbeitete er wie nie zuvor, und statt einer Tombola in der Woche veranstaltete er drei. Schon in aller Herrgottsfrühe sah man ihn durchs Dorf, ja durch seine entlegensten, armseligsten Viertel rennen und seine Lose mit einer Beharrlichkeit losschlagen, die man nur einem Sterbenden

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