Hundert Jahre Einsamkeit
verheerende Gewohnheit, die Dinge nicht bei ihrem Namen zu nennen, Anlaß zu einer neuen Verwirrung gegeben, denn das einzige, was die telepathischen Chirurgen feststellten, war eine Gebärmuttersenkung, die sich mit dem Gebrauch eines Pessars beheben ließ. Die enttäuschte Fernanda bat um genauere Auskünfte, doch ihre unbekannten Korrespondenten ließen ihre Briefe unbeantwortet. Sie fühlte sich vom Gewicht eines unbekannten Worts so zermalmt, daß sie ihre Scham hinunterzuschlucken beschloß, um zu fragen, was ein Pessar sei, und erst jetzt erfuhr sie, daß der französische Arzt sich vor drei Monaten an einem Deckenbalken erhängt hatte und gegen den Willen des Dorfs von einem früheren Waffenbruder des Oberst Aureliano Buendía beerdigt worden war. Nun vertraute sie sich ihrem Sohn José Arcadio an, und dieser sandte ihr aus Rom die Pessare mit einer schriftlichen Gebrauchsanweisung, die sie ins Klosett warf, nachdem sie sie auswendig gelernt hatte, damit niemand die Natur ihrer Gebrechen erfahre. Es war eine überflüssige Vorkehrung, da die einzigen Menschen, die im Haus wohnten, sie kaum noch wahrnahmen. Santa Sofía von der Frömmigkeit irrte in einsamer Altersschwäche umher, kochte das wenige, was gegessen wurde, und widmete sich fast völlig José Arcadio Segundos Betreuung. Amaranta Ursula, die Erbin mancher Reize von Remedios der Schönen, vertrieb sich mit Schularbeiten die Zeit, die sie früher verloren hatte, wenn sie Ursula quälte, und legte ein Urteilsvermögen und einen Lerneifer an den Tag, die in Aureliano Segundo die von Meme in ihm einst erweckten Hoffnungen aufleben ließen. Er hatte ihr versprochen, sie in Übereinstimmung mit einem zur Zeit der Bananengesellschaft eingeführten Brauch zum Abschluß ihrer Studien nach Brüssel zu schicken, und diese Illusion hatte ihn zu dem Versuch verführt, die von der Sintflut verwüsteten Ländereien zu neuem Leben zu erwecken. Wenn er jetzt gelegentlich im Hause gesehen wurde, so tat er es Amaranta Ursula zuliebe, denn mit der Zeit war er für Fernanda ein Fremder geworden, und der kleine Aureliano wurde desto menschenscheuer und einsilbiger, je näher er auf die Pubertät zuging. Aureliano Segundo vertraute darauf, daß das Alter Fernandas Herz besänftigte, damit das Kind sich dem argwöhnischen Leben eines Dorfes einfügen könne, in dem sich sicherlich niemand die Mühe machen würde, Mutmaßungen über seine Herkunft anzustellen. Doch sogar Aureliano schien die Zurückgezogenheit und Einsamkeit vorzuziehen und verriet keinerlei Neugier nach der Welt, die vor der Haustür begann. Als Ursula Melchíades' Zimmer aufbrechen ließ, umschlich er sie und warf verstohlene Blicke durch die halboffene Tür, und niemand erfuhr, in welchem Augenblick zwischen ihm und José Arcadio Segundo gegenseitige Zuneigung entstand. Aureliano Segundo entdeckte diese Freundschaft lange nach ihrem Entstehen, als er das Kind von dem Bahnhofsgemetzel reden hörte. Eines Tages klagte jemand bei Tisch über den Verfall des Dorfes seit dem Abzug der Bananengesellschaft, und Aureliano widersprach ihm mit der Reife und Erfahrung eines Erwachsenen. Nach seinem der allgemeinen Auffassung entgegengesetzten Standpunkt war Macondo ein blühender, fortschrittlicher Ort gewesen, bis die Bananengesellschaft ihn aus der Bahn warf, verdarb und ausbeutete, weil deren Ingenieure unter dem Vorwand, sich ihren den Arbeitern gegenüber eingegangenen Verpflichtungen zu entziehen, die Sintflut herausgefordert hätten.
Der Knabe sprach mit so viel Verstand, daß er Fernanda wie eine gotteslästerliche Parodie von Jesus unter den Schriftgelehrten vorkam, und er beschrieb eingehend und überzeugend, wie das Heer über dreitausend auf dem Bahnhofsplatz zusammengepferchte Arbeiter zusammenschoß, wie die Leichen auf einen Zug von zweihundert Güterwagen geladen und ins Meer geschüttet wurden. Genau wie die Mehrheit von der offiziellen Wahrheit überzeugt, es sei nichts geschehen, empörte Fernanda der Gedanke, das Kind könne die anarchistischen Triebe des Obersten Aureliano Buendía geerbt haben, und gebot ihm zu schweigen. Aureliano Segundo hingegen erkannte die Fassung seines Zwillingsbruders an. In Wirklichkeit war José Arcadio Segundo, obwohl er von jedermann für verrückt gehalten wurde, zu jener Zeit der hellsichtigste Bewohner des Hauses. Er lehrte den kleinen Aureliano Lesen und Schreiben, unterwies ihn im Studium der Pergamente und prägte ihm so genau ein, was die Bananengesellschaft
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