Hundert Jahre Einsamkeit
sei, damit sie ihn nicht einmal nachts abzubinden brauchte. Sie wollte ihr auch den mit Lauge gewaschenen und mit Alkohol desinfizierten goldenen Nachttopf mitgeben, doch Amaranta Ursula lehnte ab aus Angst, ihre Internatsgefährtinnen könnten sie deswegen verspotten. Wenige Monate später sollte Aureliano Segundo sich in seiner Todesstunde erinnern, wie er sie das letzte Mal gesehen hatte, als sie vergeblich die staubige Scheibe des Zweiter-Klasse-Abteils herunterzudrücken versuchte, um Fernandas letzte Ratschläge zu hören. Sie trug ein rosafarbenes Seidenkleid mit einem Sträußchen künstlicher Stiefmütterchen in der an der linken Schulter befestigten Agraffe, Maroquinschuhe mit Schnallen und niederem Absatz sowie seidene Strümpfe mit Gummibändern an den Waden. Sie war von zierlicher Gestalt, hatte offenes Haar und die lebhaften Augen, die Ursula in ihrem Alter gehabt hatte, und die Art, wie sie ohne Tränen, aber auch ohne Lächeln Abschied nahm, offenbarte die gleiche Charakterstärke. Den abfahrenden Zug begleitend und Fernanda am Arm haltend, damit sie nicht stolpere, konnte Aureliano Segundo ihr nur zuwinken, als seine Tochter ihm mit den Fingerspitzen einen Kuß zuwarf. Unbeweglich blieben die Gatten unter der glühenden Sonne stehen und, zum ersten Male seit ihrem Hochzeitstag eingehakt, sahen sie dem Zug nach, der mit dem schwarzen Punkt des Horizonts verschmolz.
Am neunten August, noch bevor der erste Brief aus Brüssel eintraf, unterhielt sich José Arcadio Segundo mit Aureliano in Melchíades' Kammer und sagte unwillkürlich:
»Denk immer daran, daß es über dreitausend waren und daß man sie ins Meer geworfen hat.«
Dann beugte er sich über die Pergamente und starb mit offenen Augen. Im selben Augenblick gelangte sein Zwillingsbruder in Fernandas Bett ans Ende des langen, qualvollen Martyriums der eisernen Krebse, die ihm die Kehle zerfressen hatten. Eine Woche vorher war er ins Haus zurückgekehrt, ohne Stimme, außer Atem und fast nur noch Haut und Knochen, dafür aber mit seinen Wandertruhen und seinem Bummlerakkordeon, um sein Versprechen, bei seiner Frau zu sterben, einzulösen. Petra Cotes half ihm beim Einpacken seiner Kleider und nahm Abschied, ohne eine Träne zu vergießen, vergaß jedoch, ihm seine Lackstiefel mitzugeben, die er im Sarg anziehen wollte. Als sie daher von seinem Tod erfuhr, zog sie Trauerkleidung an, wickelte die Stiefel in eine Zeitung und bat Fernanda um Erlaubnis, den Leichnam sehen zu dürfen. Fernanda ließ sie nicht über die Schwelle treten.
»Versetzen Sie sich an meine Stelle«, flehte Petra Cotes. »Stellen Sie sich vor, wie sehr ich ihn geliebt haben muß, um diese Demütigung zu ertragen.«
»Es gibt keine Demütigung, die eine Konkubine nicht verdient«, erwiderte Fernanda. »Warten Sie daher, bis einer von den vielen anderen stirbt, damit Sie ihm die Stiefel anziehen können.«
In Erfüllung ihres Versprechens enthauptete Santa Sofía von der Frömmigkeit die Leiche José Arcadio Segundos mit einem Küchenmesser, um sicherzugehen, daß er nicht lebend begraben würde. Die Leichname wurden in gleiche Särge gelegt, und nun erwies es sich, daß sie im Tod wieder übereinstimmten, wie sie es in ihrer Jugend getan hatten. Aureliano Segundos alte Saufkumpane legten auf seinen Sarg einen Kranz mit maulbeerfarbenem Band, auf dem zu lesen stand: Aus dem Weg, Kühe, das Leben ist kurz. Fernanda war über diesen Mangel an Ehrerbietung so empört, daß sie den Kranz in den Müll werfen ließ. Im Durcheinander der letzten Augenblicke verwechselten die trostlosen Trunkenbolde beim Hinaustragen die Särge und beerdigten beide im falschen Grab.
Lange Zeit verließ Aureliano nicht Melchíades' Kammer. Er erlernte die phantastischen Legenden des Buchs mit den fliegenden Blättern, die Zusammenfassung der Studien Hermanns des Gelähmten; die Anmerkungen über die dämonologische Wissenschaft, die Schlüssel zum Stein der Weisen, die Prophezeiungen des Nostradamus und die Untersuchungen über die Pest, so daß er ins Jugendalter gelangte, ohne das geringste über seine eigene Zeit zu wissen, dafür aber die grundlegenden Kenntnisse des mittelalterlichen Menschen besaß. Immer wenn Santa Sofía von der Frömmigkeit in sein Zimmer trat, fand sie ihn ins Lesen vertieft. Bei Tagesanbruch brachte sie ihm eine Tasse Kaffee ohne Zucker und zur Mittagsstunde einen Teller Reis mit gebratenen Bananenscheiben, das einzige, was seit Aureliano
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