Hundert Jahre Einsamkeit
Segundos Tod im Haus gegessen wurde. Sie sorgte dafür, daß ihm das Haar geschnitten, daß sein Kopf von Nissen gesäubert wurde, daß ihm die alten, in vergessenen Truhen aufgefundenen Kleider angepaßt wurden, und als ihm ein Bart zu sprießen begann, brachte sie ihm das Rasiermesser Oberst Aureliano Buendías und seine kleine Totumakürbisschale für den Seifenschaum. Keiner von dessen Söhnen glich ihm dermaßen, nicht einmal Aureliano José, besonders wegen der hervorstehenden Backenknochen und des entschlossenen, etwas unerbittlichen Lippenschwungs. So wie es Ursula mit Aureliano Segundo ergangen war, als dieser in der Kammer studierte, glaubte Santa Sofía von der Frömmigkeit, Aureliano führe Selbstgespräche. In Wirklichkeit unterhielt er sich mit Melchíades. Eines glutheißen Mittags kurz nach dem Tod der Zwillinge sah er gegen das lichtblendende Fenster den düsteren Greis im Schlapphut mit Rabenschwingenkrempe gleichsam als Verkörperung eines Andenkens, das schon lange vor seiner Geburt in seiner Erinnerung geruht hatte. Aureliano hatte soeben die Aufstellung des Pergament-Alphabets beendet. Als daher Melchíades ihn fragte, ob er die Sprache entdeckt habe, in der es abgefaßt sei, zögerte er nicht mit der Antwort. »In Sanskrit«, sagte er. Melchíades offenbarte ihm, daß seine Stunden, zu denen er in die Kammer zurückkehren könne, gezählt seien. Indessen zöge er seelenruhig auf die Weiden des endgültigen Todes, da Aureliano in den Jahren, die noch fehlten, bis die Pergamente ein Jahrhundert alt waren und entziffert werden konnten, Zeit zum Erlernen des Sanskrits habe. Er verriet ihm auch, daß in dem am Fluß endenden Gäßchen, wo zur Zeit der Bananengesellschaft die Zukunft geweissagt und die Träume gedeutet worden waren, ein katalanischer Weiser, der einen Bücherladen unterhielt, einen Band >Sanskrit Primer< besaß, der in sechs Jahren von den Motten zerfressen sein würde, sofern er ihn nicht schleunigst kaufte. Zum ersten Male in ihrem Leben verriet Santa Sofía von der Frömmigkeit ein Gefühl, und zwar ein Gefühl der Verblüffung, als Aureliano sie bat, sie möge ihm das Buch bringen, das sie zwischen >Gerusalemme Liberata< und Miltons Gedichten finden würde, und zwar ganz rechts auf dem zweiten Stock der Regale. Da sie nicht lesen konnte, lernte sie das Gehörte auswendig und beschaffte sich das Geld mit dem Verkauf von einem der siebzehn goldenen Fischchen, die in der Werkstatt übriggeblieben waren und deren Versteck nur sie und Aureliano seit der Nacht kannten, in der die Soldaten das Haus durchsucht hatten.
Aureliano schritt im Studium des Sanskrits fort, während Melchíades immer seltener kam, immer ferner wurde und sich endlich in der strahlenden Mittagshelle auflöste. Als Aureliano ihn zum letzten Mal spürte, war er nichts als unsichtbare Gegenwart, die murmelte: »Ich bin in Singapurs Dünen am Fieber gestorben.« Nun wurde die Kammer empfänglich für Staub, Hitze, Termiten, bunte Ameisen, Motten, die die Weisheit der Bücher und Pergamente in Sägemehl verwandeln sollten.
Im Haus fehlte es nicht an Nahrungsmitteln. Am Tag nach Aureliano Segundos Tod bot einer der Freunde, die den Kranz mit der unehrerbietigen Aufschrift gestiftet hatten, Fernanda an, eine von ihrem Mann geliehene Geldsumme zurückzuzahlen. So brachte denn fortan jeden Mittwoch ein Bote einen Korb mit Lebensmitteln ins Haus, der für eine Woche ausreichte. Niemand sollte je erfahren, daß Petra Cotes ihr diese Eßwaren schickte im Gedanken, die fortgesetzte Wohltätigkeit sei eine Form, diejenige zu demütigen, die sie gedemütigt hatte. Im übrigen schwand ihr Groll viel eher, als sie selbst gehofft hatte, und nun schickte sie die Lebensmittel weiter aus Stolz und schließlich aus Mitleid. Mehrmals, wenn ihr die Lust ausging, Lose zu verkaufen, und die Leute Gefallen an Tombolas verloren, verzichtete sie aufs Essen, nur damit Fernanda zu essen bekam, und ließ nicht ab, ihrer Verpflichtung nachzukommen, solange sie nicht ihren Leichenzug vorbeigehen sah.
Für Santa Sofía von der Frömmigkeit brachte die Verringerung der Hausbewohner vermutlich die Entspannung, auf die sie seit mehr als einem halben Jahrhundert der Arbeit Anrecht hatte. Nie hatte man ein Wort der Klage gehört von dieser schweigsamen, wortkargen, undurchdringlichen Frau, die in der Familie das engelhafte Erbe Remedios' der Schönen und die geheimnisvolle Feierlichkeit José Arcadio Segundos gesät hatte; die ein Leben der
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