Hundert Jahre Einsamkeit
Bordelle verzichten mußte, bekam er wieder Mut, um in Melchíades' Kammer zurückzukehren, entschlossen, sich in seinem Bemühen nicht beirren zu lassen, bis er nicht die allerletzten Schlüssel entdeckt hatte. Das war in den Tagen, als Gaston auf den Aeroplan zu warten begann und Amaranta Ursula so allein war, daß sie eines Morgens in seinem Zimmer erschien.
»Hallo, Menschenfresser«, sagte sie. »Wieder mal im Bau?«
Sie war unwiderstehlich in ihrer modischen Neuschöpfung und einer ihrer langen, aus Alsenrückgraten selbstgefertigten Halsketten. Überzeugt von der Treue ihres Gatten, hatte sie auf das Seidenband verzichtet und schien zum erstenmal seit ihrer Rückkehr über ein Mußestündchen zu verfügen. Aureliano hätte sie nicht zu sehen brauchen, um zu wissen, daß sie da war. Sie lehnte sich auf den Arbeitstisch, so nahe und so regungslos, daß Aureliano das tiefe Rumoren in ihren Knochen vernahm, und interessierte sich für die Pergamente. Bemüht, seine Verwirrung zu überwinden, packte er die Stimme, die ihm entfloh, das Leben, das sich ihm entwand, das Gedächtnis, das sich ihm in einen versteinerten Polypen verwandelte, und sprach ihr vom levitischen Schicksal des Sanskrits, der wissenschaftlichen Möglichkeit, die Zukunft durchsichtig in der Zeit zu sehen, so wie man auf der Rückseite eines Papiers Geschriebenes durchschimmern sieht, von der Notwendigkeit, die Voraussagen zu chiffrieren, damit sie sich nicht selber zugrunde richten, und von den Zenturien des Nostradamus und von der durch Sankt Millan verkündeten Vernichtung Kantabriens. Plötzlich, ohne seinen Vortrag zu unterbrechen, von einem Impuls bewegt, der von Anfang an in ihm geschlummert hatte, legte Aureliano seine Hand auf die ihre, im Glauben, diese letzte Entscheidung bringe sein Scheitern zu einem Ende. Indes, sie nahm seinen Zeigefinger mit der liebevollen Unschuld, mit der sie das so oft in der Kindheit getan hatte, und hielt ihn fest, während er ihre weiteren Fragen beantwortete. So verharrten sie, verbunden durch einen eisigen Zeigefinger, der in keiner Richtung auch nur das geringste vermittelte, bis sie aus ihrem augenblicklichen Traum erwachte und sich gegen die Stirn schlug. »Die Ameisen!« rief sie aus. Und schon vergaß sie die Manuskripte, lief im Tanzschritt zur Tür und sandte Aureliano von dort mit den Fingerspitzen den gleichen Kuß zu, mit dem sie sich von ihrem Vater an dem Nachmittag ihrer Abfahrt nach Brüssel verabschiedet hatte.
»Später erklärst du es mir«, sagte sie. »Ich habe ganz vergessen, daß heute der Tag ist, an dem ich Kalk in die Ameisenlöcher streuen muß.«
Gelegentlich, wenn sie in der Nähe etwas zu tun hatte, kam sie wieder in sein Zimmer und blieb ein paar Minuten da, während ihr Mann nach wie vor den Himmel absuchte. Von dieser Veränderung der Dinge getäuscht, blieb Aureliano nun zu den Mahlzeiten im Haus, was er seit den ersten Monaten nach Amaranta Ursulas Heimkehr nicht mehr getan hatte. Das gefiel Gaston. Während der Unterhaltungen bei der Nachspeise, die sich über eine Stunde hinzuziehen pflegten, beschwerte sich dieser, daß seine Teilhaber ihn hintergingen. Sie hatten ihm die Verschiffung des Aeroplans angekündigt, doch das Schiff kam und kam nicht, und wenngleich die Schiffahrtsagentur ihm versicherte, es würde nie und nimmer ankommen, weil es nicht in den Schiffahrtslisten des Karibischen Meers stand, behaupteten seine Geschäftsfreunde steif und fest, es sei in der Tat unterwegs, und ließen den Verdacht durchblicken, Gaston belüge sie in seinen Briefen. Der Briefwechsel erreichte einen derartigen Grad des gegenseitigen Argwohns, daß Gaston beschloß, nicht mehr zu schreiben und lieber rasch nach Brüssel zu reisen, um die Lage zu klären und mitsamt seinem Aeroplan zurückzukehren. Doch dieses Projekt fiel sofort ins Wasser, als Amaranta Ursula wiederholte, sie werde keinen Schritt aus Macondo weichen, selbst wenn sie dadurch auf ihren Mann verzichten müsse. In der ersten Zeit teilte Aureliano die allgemeine Auffassung, Gaston sei ein Trottel auf einem Veloziped, und das weckte in ihm ein vages Gefühl des Mitleids. Später, als er in den Bordells tiefe Einsichten über die Natur der Männer erlangte, dachte er, Gastons Sanftmut sei in seiner ausschweifenden Leidenschaft begründet. Doch als er ihn besser kannte und gewahrte, daß sein wahrer Charakter im Widerspruch zu seinem gefügigen Gebaren stand, kam er auf den böswilligen Verdacht, daß sogar das Warten
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