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Hundert Jahre Einsamkeit

Hundert Jahre Einsamkeit

Titel: Hundert Jahre Einsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel Garcia Marquez
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Rosenduft getränkten Garten, und sie versammelten sich im Besuchszimmer vor der mit einem weißen Tuch bedeckten Erfindung. Wer das in anderen Moordörfern beliebte Pianoforte kannte, fühlte sich ein wenig betrogen, doch am bittersten war die Enttäuschung Ursulas, als sie die erste Rolle einspannte, damit Amaranta und Rebeca den Ball eröffneten, und der Mechanismus nicht gehorchte. So nahm der fast erblindete und vor Altersschwäche fast zerfallende Melchíades Zuflucht zu den Künsten seiner uralten Weisheit, um es wieder in Gang zu bringen. Endlich gelang es José Arcadio Buendía aus Versehen, einen verhakten Hebel zu lockern, und die Musik ließ sich, zunächst ruckweise, doch gleich darauf in einer Springflut von umgekehrten Noten vernehmen. Auf die ohne Sinn und Verstand gespannten, tollkühn gestimmten Saiten einschlagend, sprangen die Hämmer aus den Angeln. Doch die starrköpfigen Abkömmlinge der einundzwanzig Furchtlosen, welche die Sierra auf der Suche nach dem Meer durchstoßen hatten, überlisteten die Fallen des musikalischen Spielverderbers, und der Ball zog sich bis in die Morgenstunden hinein.
    Pietro Crespi setzte das Pianola von neuem zusammen. Rebeca und Amaranta halfen ihm beim Ordnen der Saiten und begleiteten sein Gelächter über die auf den Kopf gestellten Walzerweisen. Er war äußerst liebenswert und von so ehrbarer Lebensart, daß Ursula ihre Wachsamkeit aufgab. Am Vorabend seiner Abreise wurde mit Hilfe des wiederhergestellten Pianolas ein Abschiedsball aus dem Stegreif veranstaltet, bei dem er mit Rebeca virtuos moderne Tänze vorführte. Arcadio und Amaranta taten es ihnen in Anmut und Geschicklichkeit gleich. Doch die Vorstellung wurde unterbrochen, weil Pilar Ternera, die mit den Gaffern an der Tür stand, sich plötzlich kratzend und beißend mit einer Frau in den Haaren lag, die es wagte, über Arcadios Weiberhintern zu spotten. Gegen Mitternacht verabschiedete sich Pietro Crespi mit einer kurzen gefühlsseligen Rede und versprach, recht bald wiederzukommen. Rebeca begleitete ihn zur Tür und ging gleich nach dem Abschließen des Hauses und dem Löschen der Lampen in ihr Zimmer und weinte. Sie weinte untröstlich und weinte so mehrere Tage, und nicht einmal Amaranta erfuhr den Grund. Ihre Wortkargheit war nicht verwunderlich. Wenngleich sie mitteilsam und herzlich schien, hatte sie dennoch einen zur Einsamkeit neigenden Charakter und ein undurchdringliches Herz. Sie war ein prachtvolles junges Geschöpf von schlankem, festem Knochenbau, hatte sich jedoch in den Kopf gesetzt, das hölzerne Schaukelstühlchen zu benützen, das sie mit ins Haus gebracht hatte und das inzwischen mehrfach verstärkt und seiner Lehnen beraubt worden war. Niemand hatte entdeckt, daß sie noch in ihrem Alter am Daumen lutschte. Daher verlor sie keine Gelegenheit, sich im Bad einzuschließen, und hatte die Gewohnheit angenommen, mit dem Gesicht zur Wand zu schlafen. Wenn sie an Regennachmittagen mit einer Gruppe von Freundinnen in der Begonienveranda stickte, verlor sie leicht den Faden der Unterhaltung, und eine Träne der Sehnsucht versalzte ihr den Gaumen, wenn sie die von den Würmern des Gartens gebauten feuchten Erdgänge und Kothügelchen sah. Diese einst durch ein Orangen- und Rhabarbergemisch verdrängten Gelüste brachen als unwiderstehliches Begehren auf, sobald sie weinte.
    Wieder aß sie Erde. Das erstemal tat sie es fast aus Neugierde, gewiß, der üble Geschmack würde die beste Arznei gegen die Versuchung sein. Und in der Tat vertrug sie die Erde im Mund nicht. Doch vom wachsenden Drang bezwungen, ließ sie nicht locker, und allmählich stellte sich ihr alter Appetit wieder ein, ihr Geschmack an primären Mineralien, die lückenlose Befriedigung an Urnahrung. Nun steckte sie sich Händevoll Erde in die Taschen und aß sie krumenweise, ohne gesehen zu werden, mit einer wirren Empfindung von Glück und Wut, während sie ihre Freundinnen die schwierigsten Stiche lehrte und von anderen Männern sprach, die nicht das Opfer verdienten, daß man ihretwegen den Kalk der Wände aß. Die Häufchen Erde machten den einzigen Mann, der diese Entwürdigung wert war, weniger fern und greifbarer, so, als übermittle der Boden, den er mit seinen feinen Lackschuhen an einer anderen Stelle der Welt trat, ihr die Last und die Temperatur seines Blutes in einem mineralischen Geschmack, der auf ihrer Zunge ein Aroma bitterer Asche und einen Niederschlag von Frieden in ihrem Herzen hinterließ. Eines

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