Hundert Jahre Einsamkeit
Ternera: »Wer ist es?« Aureliano sagte es. Und sie stieß ihr Lachen aus, das in anderen Zeiten die Tauben erschreckt hatte und das nun nicht einmal mehr ihre Kinder weckte. »Du mußt sie erst noch aufziehen«, spottete sie. Doch hinter ihrem Spott entdeckte Aureliano stillschweigendes Einverständnis. Als er das Zimmer verließ, in dem er nicht nur die Ungewißheit seiner Männlichkeit zurückließ, sondern auch die bittere Last, die er so lange Monate im Herzen getragen hatte, versprach Pilar Ternera ihm unvermittelt:
»Ich werde mit der Kleinen reden. Du wirst sehen, ich kredenze sie dir auf einem Tablett.«
Sie hielt ihr Versprechen. Jedoch in einem üblen Augenblick, weil das Haus den Frieden früherer Tage eingebüßt hatte. Als Amaranta Rebecas Leidenschaft entdeckte, die sie wegen ihres Gejammers nicht geheimzuhalten vermochte, erlitt sie einen Fieberanfall. Auch sie litt am Stachel einer einsamen Liebe. Im Badezimmer eingeschlossen, entledigte sie sich der Qual einer hoffnungslosen Leidenschaft durch die Niederschrift fieberhafter Briefe, die sie entsagungsvoll in der Tiefe ihrer Truhe verwahrte. Ursula kam kaum der Betreuung der beiden Kranken nach. Selbst in ausgedehnten, hinterlistigen Verhören wollte es ihr nicht gelingen, die Ursachen von Amarantas Niedergeschlagenheit herauszubringen. Schließlich erbrach sie in einem neuen Moment der Erleuchtung das Schloß der Truhe und fand die an Pietro Crespi gerichteten und nie abgesandten, durch frische Lilien angeschwollenen und noch tränenfeuchten, mit rosenroten Bändchen gebündelten Briefe. Vor Wut weinend, verfluchte sie die Stunde, in der ihr der Gedanke gekommen war, das Pianola zu kaufen, verbot jeden Stickunterricht und bestimmte eine Art Trauerzeit ohne Tote, bis ihre Töchter ihre Hoffnungen aufgäben. Die Einmischung José Arcadio Buendías, der seinen ersten Eindruck über Pietro Crespi berichtigt hatte und seine Geschicklichkeit in der Handhabung musikalischer Maschinen bewunderte, erwies sich als nutzlos. Als daher Pilar Ternera Aureliano sagte, Remedios sei heiratsbereit, begriff dieser, daß die Nachricht seine Eltern betrüben müsse. Zu einer offiziellen Besprechung ins Besuchszimmer gebeten, hörten José Arcadio Buendía und Ursula unerschrocken die Erklärung ihres Sohnes an. Als José Arcadio Buendía indessen den Namen der Braut erfuhr, wurde er puterrot vor Empörung. »Die Liebe ist eine Landplage«, donnerte er. »Wo es so viele hübsche anständige Mädchen gibt, mußt du unbedingt auf die Idee verfallen, die Tochter unseres Feindes zu heiraten.« Ursula hingegen war mit der Wahl einverstanden. Sie bekannte ihre Zuneigung zu den sieben Töchtern Moscotes wegen ihrer Schönheit, ihrem Arbeitseifer, ihrer Sittsamkeit und ihrer guten Erziehung und pries ihres Sohnes glückliche Hand. Von der Begeisterung seiner Frau gewonnen, stellte José Arcadio Buendía allerdings eine Bedingung: Rebeca, deren Liebe erwidert werde, solle in diesem Fall auch Pietro Crespi heiraten. Sobald sie Zeit habe, solle Ursula mit Amaranta in die Provinzhauptstadt reisen, damit die Bekanntschaft mit feinen Menschen sie von ihrer Enttäuschung heile. Rebeca wurde gesund, sobald sie von der Vereinbarung erfuhr, und schrieb ihrem Bräutigam einen Jubelbrief, den sie ihren Eltern zur Prüfung vorlegte und dann ohne Liebesboten der Post übergab. Amaranta fügte sich zum Schein der Entscheidung und erholte sich nach und nach von ihrem Fieber, schwor sich jedoch, Rebeca solle nur über ihre Leiche heiraten.
Am darauffolgenden Samstag zog José Arcadio Buendía seinen schwarzen Anzug, den Zelluloidkragen und die Sämischlederstiefel an, die er am Festabend eingeweiht hatte, und verließ das Haus in der Absicht, um Remedios Moscotes Hand zu bitten. Der Landrichter und seine Gattin empfingen ihn geschmeichelt und zugleich beklommen, weil sie die Absicht des unerwarteten Besuchs nicht kannten, dann aber glaubten, er habe den Namen der Umworbenen verwechselt. Um seinen Irrtum aufzuklären, weckte die Mutter Remedios und brachte das schlaftrunkene Kind auf den Armen ins Wohnzimmer. Man fragte an, ob es wirklich heiraten wolle, worauf es wimmernd erwiderte, man solle es doch schlafen lassen. José Arcadio Buendía, der die Bestürzung der Moscotes begriff, kehrte um und besprach sich mit Aureliano. Als er zurückkam, hatte das Ehepaar Moscote förmliche Kleidung angelegt, die Möbel umgestellt, frische Blumen in die Blumenvasen gesteckt und erwartete ihn in
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