Hundert Jahre Einsamkeit
Liebe um vier Uhr nachmittags. Sie wußte, daß der Post-Maulesel nur alle vierzehn Tage kam, sie aber erwartete ihn immer, überzeugt, daß er versehentlich an irgendeinem Tag kommen würde. Genau das Gegenteil erfolgte: einmal kam der Maulesel nicht am vorgesehenen Tag. Wahnsinnig vor Verzweiflung stand Rebeca mitten in der Nacht auf und aß im Garten mit selbstmörderischer Gier, weinend vor Schmerz und Zorn, Händevoll Erde, kaute zarte Würmer und zermalmte sich die Backenzähne an Schneckenhäusern. Dann übergab sie sich bis zum Morgengrauen. Sie verfiel in einen Zustand fieberhafter Niedergeschlagenheit, verlor das Bewußtsein, und ihr Herz erschloß sich schamlosem Taumel. In ihrer Empörung erbrach Ursula das Schloß der Truhe und fand tief unten siebzehn parfümierte, mit einer rosafarbenen Schleife verschnürte Briefe, guterhaltene Gerippe von Blättern und Blüten in alten Büchern wie auch getrocknete Falter, die beim Berühren zu Staub zerfielen.
Aureliano als einziger verstand so viel Trostlosigkeit. An jenem Nachmittag, während Ursula Rebeca dem Wirrsal des Wahns zu entreißen suchte, machte Aureliano sich mit Magnifico Visbai und Gerineldo Márquez zu Catarinos Butike auf. Das Etablissement war durch eine Galerie von Holzkammern erweitert worden, in denen alleinstehende, nach toten Blumen riechende Frauen hausten. Eine Musikkapelle aus Akkordeon und Trommeln spielte die Lieder Francisco-des-Mannes, der seit mehreren Jahren aus Macondo verschwunden war. Die drei Freunde tranken gegorenen Zuckerrohrsaft. Magnifico und Gerineldo, zwar Altersgenossen Aurelianos, jedoch gewandter in den Dingen der Welt, winkten Weiber heran, setzten sie sich auf den Schoß und tranken fleißig. Eine von ihnen, verwelkt und goldzähnig, liebkoste Aureliano in aufreizender Weise. Er stieß sie zurück. Er hatte entdeckt, daß, je mehr er trank, er desto mehr an Remedios dachte, dabei aber die Qual seiner Erinnerung besser ertrug. Er wußte nicht, in welchem Augenblick er zu schweben begann. Er sah, wie seine Freunde und die Frauen in schillerndem Widerglanz segelten, gewichts- und körperlos, wie sie Wörter sprachen, die nicht ihren Lippen entglitten, und geheimnisvolle Zeichen machten, die nicht ihren Gebärden entsprachen. Catarino legte ihm eine Hand auf die Schulter und sagte: »Es geht auf elf.« Aureliano wandte den Kopf, sah das riesige entstellte Gesicht mit einer Blume hinter dem Ohr und verlor das Gedächtnis wie in den Zeiten des Vergessens und fand es an einem fremden Morgengrauen in einer Kammer wieder, die ihm völlig unbekannt war, und darin Pilar Ternera in Unterwäsche, barfuß, zerzaust, die ihm mit ungläubig aufgerissenen Augen eine Lampe vors Gesicht hielt.
»Aureliano!«
Aureliano raffte sich auf, hob den Kopf. Zwar wußte er nicht, wie er dorthin gelangt war, er wußte aber, was der Zweck war, weil er ihn seit seiner Kindheit im unverletzlichen Hort seines Herzens verborgen trug.
»Ich will mit dir schlafen«, sagte er.
Seine Kleidung war mit Kot und Auswurf beschmutzt. Pilar Ternera, die damals nur mit ihren beiden kleineren Kindern zusammen wohnte, stellte keine Frage. Sie führte ihn ins Bett. Wusch ihm das Gesicht mit einem nassen Lappen, entkleidete ihn, zog sich selbst vollkommen aus und schlug das Moskitonetz herunter, damit ihre Kinder sie nicht sahen und auch nicht aufwachten. Sie war müde vom Warten auf den Mann, der nicht gekommen war, auf die Männer, die gegangen waren, die ungezählten Männer, die, von der Ungewißheit der Karten verwirrt, den Weg zu ihrem Haus verfehlt hatten. Und vom Warten war ihre Haut rissig geworden, ihre Brüste hatten sich entleert, die Glut ihres Herzens war erloschen. Sie suchte Aureliano im Dunkeln, legte ihm die Hand auf den Bauch und küßte ihn mit mütterlicher Zärtlichkeit auf den Hals. »Mein armer Junge«, murmelte sie. Aureliano erzitterte. Mit gelassener Gewandtheit ließ er ohne das geringste Straucheln die Schluchten des Schmerzes hinter sich und fand Remedios in einen horizontlosen Sumpf verwandelt, nach einem rohen Tier und frisch gebügelter Wäsche riechend. Als er wieder an die Oberfläche kam, weinte er. Zuerst war es ein unfreiwilliges, abgehacktes Schluchzen. Dann aber fühlte er, wie ein schmerzhaftes Geschwür in ihm aufbrach und sich als enthemmte Springflut entleerte. Sie wartete, dann kraulte sie ihm den Kopf mit ihren Fingerspitzen, bis sein Körper den dunklen Stoff abstieß, der ihn nicht leben ließ. Nun fragte Pilar
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