Hundert Jahre Einsamkeit
Nachmittags bat Amparo Moscote ohne bestimmten Grund um die Erlaubnis, das Haus kennenzulernen. Amaranta und Rebeca, über den unerwarteten Besuch aus dem Konzept gebracht, begegneten ihr mit gefühlloser Förmlichkeit. Sie zeigten ihr das umgebaute Herrenhaus, spielten ihr die Rollen des Pianola vor und boten ihr Orangensaft und Gebäck an. Amparo gab ihnen eine Unterrichtsstunde der Würde und des persönlichen Charmes, des guten Benehmens, die Ursula während der kurzen Augenblicke, in denen sie dem Besuch beiwohnte, tief beeindruckten. Nach zwei Stunden, als die Unterhaltung zu erschlaffen begann, nutzte Amparo eine Unaufmerksamkeit Amarantas und übergab Rebeca einen Brief. Sie konnte noch den Namen der hochwohlgeborenen Señorita Doña Rebeca Buendía lesen, geschrieben mit der gleichen methodischen Handschrift, mit der gleichen grünen Tinte und der gleichen gesuchten Wortwahl, mit denen die Gebrauchsanweisung des Pianola abgefaßt war, und sie faltete den Brief mit den Fingerspitzen zusammen und schob ihn in ihr Mieder, während sie Amparo Moscote mit dem Ausdruck des unbegrenzten und unbedingten Danks anblickte, aber auch mit dem stummen Versprechen einer bis zum Tode dauernden Mitverschworenheit.
Die plötzliche Freundschaft Amparos und Rebecas weckte Aurelianos Hoffnungen. Die Erinnerung an die kleine Remedios quälte ihn zwar, doch bot sich ihm keine Gelegenheit, sie zu sehen. Wenn er mit seinen besten Freunden, Magnifico Visbai und Gerineldo Márquez — Söhne der gleichnamigen Gründer — im Dorf spazierenging, suchte sein ängstlicher Blick sie in der Nähstube und sah immer nur ihre älteren Schwestern. Amparo Moscotes Anwesenheit im Haus wirkte auf ihn wie eine Vorahnung. Sie muß mit ihr kommen, flüsterte Aureliano sich selber zu. Sie muß kommen. Er wiederholte sich diese Worte so oft und mit so viel Überzeugungskraft, daß er eines Nachmittags, als er in seiner Werkstatt ein Fischchen aus Gold schmiedete, die Gewißheit verspürte, daß sie seinen Ruf erwidert habe. Kurz darauf hörte er in der Tat das Kinderstimmchen, und als er mit angstkaltem Herzen den Blick hob, sah er das kleine Mädchen in der Tür in einem Kleidchen aus rosafarbenem Organza und mit weißen Stiefelchen.
»Da darfst du nicht hineingehen«, hörte er Amparo Moscotes Stimme im Hausgang. »Dort wird gearbeitet.«
Aber Aureliano ließ ihr keine Zeit, dem Verbot zu gehorchen. Er hob das goldene Fischchen an dem im Fischmaul befestigten Kettchen hoch und sagte:
»Komm herein.«
Remedios trat näher und stellte ein paar Fragen über das Fischchen, die Aureliano nicht beantworten konnte, weil ein plötzlicher Anfall von Asthma ihn daran hinderte. Immer wollte er in der Nähe dieser Lilienhaut bleiben, bei diesen Smaragdaugen, in nächster Nähe dieser Stimme, die mit der gleichen Ehrerbietung, mit der sie ihren Vater anredete, »Señor« zu ihm sagte. Melchíades saß an seinem Schreibtisch in der Ecke und kritzelte unentzifferbare Zeichen. Aureliano haßte ihn. Er konnte nichts tun, außer Remedios sagen, daß er ihr das Fischchen schenken wolle, und das kleine Mädchen erschrak dermaßen über das Geschenk, daß es fluchtartig die Werkstatt verließ. An jenem Nachmittag verlor Aureliano seine heimliche Geduld, mit der er auf die Gelegenheit einer Begegnung gewartet hatte. Er vernachlässigte seine Arbeit. Verzweifelt zwang er sich zur Konzentration und rief sie mehrere Male, doch Remedios antwortete nicht. Er suchte sie in det Nähstube ihrer Schwestern, hinter jedem Vorhang des Hauses, in der Kanzlei ihres Vaters, fand sie aber nur in dem Bild, das seine eigene schreckliche Einsamkeit sättigte. Stunden verbrachte er mit Rebeca im Wohnzimmer beim Anhören der Pianola-Walzer. Diese lauschte den Walzerklängen, weil es die Musik war, zu denen Pietro Crespi ihr das Tanzen beigebracht hatte. Aureliano hingegen hörte einfach zu, weil alles, sogar Musik, ihn an Retnedios erinnerte.
Das Haus füllte sich mit Liebe. Aureliano drückte sie in Versen aus, die weder Anfang noch Ende hatten. Er schrieb sie auf rauhes Pergament, das Melchíades ihm schenkte, auf die Wände des Badezimmers, auf die Haut seiner Arme, und überall erschien Remedios verklärt; Remedios in der einschläfernden Luft von zwei Uhr nachmittags, Remedios im stummen Atem der Rosen, Remedios in der geheimem Wasseruhr des Holzwurms, Remedios im Brotduft des Tagesanbruchs, Remedios überall und Remedios für immer. Rebeca erwartete, am Fenster stickend, die
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