Hundert Jahre Einsamkeit
und Laune einnisten konnten. Mit ihrem Gefolge von Dutzenden von Maurern und Zimmerleuten, als sei sie vom betörenden Fieber ihres Gatten angesteckt, bestimmte Ursula den Einfall des Lichts und die Wärmegrade der Temperatur, sie verteilte den Raum ohne den geringsten Sinn für Grenzen. Der ursprüngliche Bau der Gründer füllte sich mit Werkzeug und Baustoffen, mit schweißgelähmten Arbeitern, die jedermann anflehten, ihnen doch nicht in die Quere zu kommen, ohne daran zu denken, daß gerade sie den anderen in die Quere kamen, erbittert über den Sack mit Menschenknochen, der sie mit dumpfem Geklapper allerwärts verfolgte. Kein Mensch, der in dieser Unbehaglichkeit ungelöschten Kalk und Teermelasse einatmete, begriff eigentlich, wie aus dem Schoß dieser Erde zum einen das größte Haus erstehen konnte, das je das Dorf erleben sollte, und zum anderen das gastfreieste und kühlste, das je im Umkreis des Moors gestanden hatte. José Arcadio Buendía, bemüht, mitten im reinsten Zusammenbruch noch die himmlische Vorsehung zu überraschen, verstand am allerwenigsten. Das neue Haus war fast fertig, als Ursula ihn seiner Schimärenwelt entriß, um ihm mitzuteilen, daß sie Anweisung gegeben habe, die Fassade blau zu streichen und nicht weiß, wie alle es gewünscht hatten. Sie zeigte ihm die offizielle schriftliche Anweisung. Ohne zu begreifen, was seine Frau sagte, entzifferte José Arcadio Buendía die Unterschrift.
»Wer ist der Kerl?« fragte er.
»Der Landrichter«, sagte Ursula untröstlich. »Es heißt, er sei ein Beamter, den die Regierung geschickt hat.«
Don Apolinar Moscote, der Landrichter, war lautlos nach Macondo gekommen. Er war im Hotel Jacob abgestiegen — gegründet von einem der als erste eingewanderten Araber, die Flitterkram gegen Papageien eintauschten — und hatte am darauffolgenden Tag ein zwei Blocks von Buendías Haus entferntes, auf die Straße gehendes Zimmerchen gemietet. Er hatte einen bei Jacob erstandenen Tisch und Stuhl hineingestellt, das mitgebrachte Wappen der Republik an die Wand geheftet und die Aufschrift Landrichter an die Tür gemalt. Sein erster Erlaß bestand in der Anweisung, die Häuser müßten zur Geburtstagsfeier der nationalen Unabhängigkeit blau gestrichen werden. José Arcadio Buendía, die Abschrift des Befehls in der Hand, traf ihn an, als er in einer in der armseligen Kanzlei aufgespannten Hängematte seinen Mittagsschlaf hielt. »Haben Sie dieses Papier unterschrieben?« fragte er. Don Apolinar Moscote, ein reifer, schüchterner Mensch mit durchbluteter Haut, antwortete: »Ja.« — »Mit welchem Recht?« fragte wieder José Arcadio Buendía. Don Apolinar Moscote kramte ein Schriftstück aus der Tischschublade hervor und zeigte es ihm: »Ich bin zum Landrichter dieses Dorfes bestellt worden.« José Arcadio Buendía würdigte die Ernennungsurkunde keines Blickes.
»In diesem Dorf wird nicht mit Papieren befohlen«, sagte er, ohne die Ruhe zu verlieren. »Und damit Sie ein für allemal Bescheid wissen: Wir brauchen keinen Landrichter, denn hier gibt es nichts zu richten.«
Angesichts der Unerschrockenheit Don Apolinar Moscotes erstattete er, noch immer ohne die Stimme zu erheben, ihm einen eingehenden Bericht über die Gründung des Ortes, über die Aufteilung des Landes, über die Eröffnung der Straßen und die Einführung der notwendig gewordenen Verbesserungen, ohne je irgendeine Regierung belästigt zu haben oder von irgend jemandem belästigt worden zu sein. »Wir sind so friedlich, daß wir nicht einmal eines natürlichen Todes gestorben sind«, sagte er. »Sie sehen, daß wir noch keinen Friedhof haben.« Dabei beschwere er sich nicht über die Nichthilfe der Regierung. Im Gegenteil, er freue sich, daß man sie bislang habe in Ruhe wachsen lassen, und er hoffe, daß man das auch in Zukunft tue, denn sie hätten kein Dorf gegründet, damit der erste beste ihnen sage, was sie zu tun hätten. Mittlerweile hatte Don Apolinar Moscote eine Drillichjacke angezogen, die weiß war wie seine Hose, ohne einen Augenblick die Makellosigkeit seiner Manieren zu verlieren. »Wenn Sie also hierbleiben wollen wie jeder andere beliebige Bürger, sind Sie herzlich willkommen«, schloß José Arcadio Buendía. »Wenn Sie aber Unordnung stiften wollen, indem Sie die Leute zwingen, ihre Häuser blau zu streichen, können Sie Ihren Kram packen und sich dahin scheren, woher Sie gekommen sind. Denn mein Haus soll weiß sein wie eine Taube.«
Don Apolinar Moscote
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