Hundert Jahre Einsamkeit
Gesellschaft ihrer älteren Töchter. Erschöpft durch die peinliche Situation und den unbequemen steifen Kragen, bestätigte José Arcadio Buendía, Remedios sei in der Tat die Erwählte. »Das hat doch keinen Sinn«, entgegnete fassungslos Don Apolmar Moscote. »Wir haben noch sechs andere Töchter, alle unverheiratet und alle heiratsfähig, und diese wären entzückt, die ehrenwerte Ehefrau eines so zuverlässigen, fleißigen Kavaliers wie Ihres Sohnes zu werden, aber Aureliano scheint ausgerechnet sein Auge auf die einzige geworfen zu haben, die noch ins Bett macht.« Seine Gemahlin, eine guterhaltene Frau mit kummervollen Lidern und Gebärden, warf ihm mangelnde Wohlanständigkeit vor. Als die Fruchtspeise verzehrt war, hatte man befriedigt Aurelianos Entschluß angenommen. Nur bat Señora Moscote um die Gunst, ein privates Wort mit Ursula zu wechseln. Einerseits neugierig, andrerseits einwerfend, man verwickle sie in Männerangelegenheiten, in Wirklichkeit jedoch von Erregung eingeschüchtert, besuchte Ursula sie am nächsten Tag. Eine halbe Stunde später kehrte sie mit der Nachricht zurück, Remedios sei noch nicht geschlechtsreif. Aureliano sah darin kein ernstes Hindernis. Er hatte so lange gewartet, so daß er warten konnte, bis seine Braut das empfängnisfähige Alter erreicht haben würde. Die wiedergewonnene Eintracht wurde nur durch Melchíades' Tod unterbrochen. Wenn das Ereignis auch absehbar gewesen war, so waren es nicht die Umstände. Wenige Monate nach seiner Rückkehr alterte er so rasch und ausweglos, daß er bald für einen jener wertlosen Urgroßväter gehalten wurde, die, die Füße nachziehend, wie Schatten durch die Schlafzimmer schleichen und mit vernehmlicher Stimme besseren Zeiten nachtrauern, die niemand betreut und niemand bedenkt bis zu dem Tag, an dem sie eines Morgens tot in ihrem Bett aufgefunden werden. Anfangs begeistert über die Neuigkeit der Daguerreotypie und die Prophezeiungen des Nostradamus, hatte José Arcadio Buendía ihm in seinen Obliegenheiten zur Seite gestanden. Doch nach und nach überließ er ihn der Einsamkeit, weil der Gedankenaustausch mit ihm immer schwieriger wurde. Denn da er Gesicht und Gehör verloren hatte, schien er seine Gesprächspartner nunmehr mit Menschen zu verwechseln, die er in früheren Menschheitsepochen gekannt hatte, und beantwortete Fragen nur noch in einem verworrenen Sprachenkauderwelsch. So schlurfte er umher, die Luft betastend, wenngleich er mit unglaublicher Behendigkeit zwischen den Dingen umherging, als sei er mit einem auf unmittelbaren Vorahnungen fußenden Ortssinn ausgestattet. Eines Tages vergaß er sein Gebiß einzusetzen, das er abends neben dem Bett in ein Wasserglas legte, und setzte es fortan nicht mehr ein. Als Ursula die Vergrößerung des Hauses plante, ließ sie ihm fern vom häuslichen Trubel und Lärm neben Aurelianos Werkstatt ein eigenes Kämmerchen mit einem lichtdurchfluteten Fenster und einem Bücherbord anbauen, auf dem sie eigenhändig die von Staub und Motten fast zerfressenen Bücher einordnete, die mit unentzifferbaren Zeichen bedeckten spröden Papiere sowie das Glas mit seinem Gebiß, das mittlerweile von Wasserpflanzen mit winzigen gelben Blüten überwachsen war. Die neue Behausung schien Melchíades zu gefallen, da er sich nie mehr im Eßzimmer sehen ließ. Er ging nur noch in Aurelianos Werkstatt, wo er Stunden um Stunden seine rätselhafte Literatur auf Pergamente kritzelte, die er mitgebracht hatte und die aus einem so brüchigen Stoff hergestellt schienen, daß sie wie Blätterteig zerbröselten. Doch verzehrte er das Essen, das Visitación ihm zweimal am Tag brachte, wenngleich er in der letzten Zeit den Appetit verloren hatte und nur noch Gemüse anrührte. Bald nahm er denn auch das Vegetariern eigene wehrlose Aussehen an. Seine Haut überzog sich mit einer zarten Moosschicht, die auf seiner anachronistischen Weste gedieh, die er nie mehr auszog, und sein Atem verströmte den Geruch eines schlafenden Tiers. Der mit seinen Versen beschäftigte Aureliano vergaß ihn zu guter Letzt ganz, doch bei einer bestimmten Gelegenheit glaubte er etwas von seinen gemurmelten Selbstgesprächen zu verstehen und schenkte ihm Aufmerksamkeit. Doch das einzige, was er in dem kehligen Gebrumm unterscheiden konnte, war das aufsässige Gehämmer des Wortes Tagundnachtgleiche, Tagundnachtgleiche, Tagundnachtgleiche, sowie der Name Alexander von Humboldt. Arcadio kam ihm etwas näher, als er Aureliano beim Goldschmieden
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