Hundert Jahre Einsamkeit
nicht, doch als sie Rebeca zum Abschied küßte, flüsterte sie ihr ins Ohr:
»Gib dich keinen Illusionen hin. Auch wenn man mich bis ans Ende der Welt schleppt, werde ich Mittel und Wege finden, deine Ehe zu vereiteln, und müßte ich dich dafür umbringen.«
Mit der Abwesenheit Ursulas, mit der unsichtbaren Anwesenheit des Melchíades, der nach wie vor schweigsam durch die Zimmer schlich, schien das Haus riesengroß und leer. Rebeca hatte die Leitung des Haushalts übernommen, während die Indiofrau sich um die Bäckerei kümmerte. Gegen Abend, wenn Pietro Crespi, angekündigt durch einen frischen Hauch von Lavendel, in der Hand das unvermeidliche Geschenk eines Spielzeugs, das Haus betrat, empfing seine Verlobte ihn im Hauptsalon, dessen Türen und Fenster offenstanden, damit von vornherein jeder Argwohn ausgeschaltet werde. Das war eine überflüssige Vorsichtsmaßnahme, denn der Italiener hatte so viel Ehrerbietung bewiesen, daß er nicht einmal die Hand der Frau berührte, die noch vor Ablauf eines Jahres seine Ehefrau werden sollte. Dank dieser Visiten füllte sich das Haus mit Spielzeug. Die aufziehbaren Tänzerinnen, die Musiktruhen, die Turnaffen, die trabenden Pferdchen, die tamburinspielenden Clowns, die reichhaltige, wundersame mechanische Fauna, die Pietro Crespi mitbrachte, verscheuchten José Arcadio Buendías Kummer über Melchíades' Tod und führten ihn von neuem in seine alten Alchimistenzeiten zurück. Nun lebte er in einem Paradies ausgeweideter Tiere, auseinandergenommener Mechanismen, die er mit dem System des auf dem Uhrpendel fußenden Perpetuum mobile zu vervollkommnen suchte. Aureliano seinerseits hatte seine Werkstatt vernachlässigt, um der kleinen Remedios Lesen und Schreiben beizubringen. Anfangs zog die Kleine ihre Puppen dem Manne vor, der jeden Nachmittag ankam und schuld daran war, daß man sie von ihren Spielsachen fortriß, um sie zu waschen, anzuziehen, und sie dann zum Empfang ihres Besuches in den Salon setzte. Doch Aurelianos Geduld und Hingabe verführten sie schließlich dazu, daß sie Stunden mit ihm verbrachte, um in einem Heft mit Buntstiften die Bedeutung der Buchstaben zu erlernen und Häuschen und Pferche mit Kühen zu zeichnen und runde Sonnen mit gelben Strahlen, die sich hinter Hügeln verbargen.
Nur Rebeca war über Amarantas Drohungen unglücklich. Sie kannte den Charakter ihrer Schwester, den Stolz ihres Gemüts, und die Heftigkeit ihres Grolls erschreckte sie. Daumenlutschend verbrachte sie ganze Stunden im Badezimmer und strengte ihren Willen aufs äußerste an, um nicht Erde zu essen. Erleichterung für ihre Qual suchend, rief sie Pilar Ternera, damit diese ihr die Zukunft lese. Nach einer langen Litanei althergebrachter Ungenauigkeiten prophezeite Pilar Ternera:
»Solange deine Eltern nicht beerdigt sind, wirst du nicht glücklich werden.«
Rebeca erbebte. Wie in einer Traumerinnerung sah sie sich als kleines Mädchen mit ihrer Truhe, dem hölzernen Schaukelstühlchen und einem Sack, dessen Inhalt sie nie gesehen hatte, das Haus betreten. Sie erinnerte sich an einen kahlköpfigen Kavalier in einem Leinenanzug und einem am Hals mit einem goldenen Knopf verschlossenen Hemd, der nichts mit dem Herzkönig zu tun hatte. Sie erinnerte sich an eine blutjunge, bildschöne Frau mit sanften, duftenden Händen, die nichts zu tun hatten mit den rheumatischen Händen der Karodame, und die ihr Blumen ins Haar steckte, um sie nachmittags zu einem Spaziergang in einem Dorf mit grünen Gassen abzuholen.
»Ich verstehe das nicht«, sagte sie.
Pilar Ternera schien fassungslos:
»Ich auch nicht. Doch das sagen die Karten.«
Rebeca ließ sich von dem Rätsel dergestalt beunruhigen, daß sie es José Arcadio Buendía erzählte, und dieser schalt sie, Kartenprophezeiungen Glauben zu schenken, widmete sich dann aber der verschwiegenen Aufgabe, auf der Suche nach dem Knochensack Schränke und Truhen zu durchstöbern, Möbel zu verrücken, Betten umzudrehen und Fußböden aufzustemmen. Er erinnerte sich daran, den Sack seit der Zeit des Umbaus nicht gesehen zu haben. Heimlich rief er die Maurer, und einer unter ihnen enthüllte ihm, er habe den Sack in einem der Schlafzimmer eingemauert, weil er beim Arbeiten gestört habe. Nach mehreren Tagen aufmerksamen Abklopfens der Wände vernahmen sie ein tiefes Klockklock. Sie durchbohrten die Wand, und da waren denn auch die Knochen in ihrem unbeschädigten Sack. Noch am selben Tag begruben sie sie in einem neben Melchíades'
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