Hundert Jahre Einsamkeit
nahm und zum Altar führte. Sie indes gab sich so natürlich und so bescheiden, daß sie nicht einmal die Haltung verlor, als Aureliano den Trauring, den er ihr anstreifen wollte, fallen ließ. Unter Getuschel und einem Anflug von Verwirrung der Hochzeitsgäste hielt sie die mit einem Halbhandschuh aus Spitzen bekleidete Hand mit dem freien Ringfinger hoch, bis es dem Bräutigam gelang, den Ring mit dem Stiefel anzuhalten, damit er nicht bis zur Türe rollte; dann kehrte er schamrot zum Altar zurück. Ihre Mutter und Schwestern fürchteten so sehr, die Kleine könne während der Trauung einen Schnitzer machen, daß sie zu guter Letzt die Taktlosigkeit begingen und sie auf den Arm nahmen, um ihr einen Kuß zu geben. Schon an jenem Tag traten das Verantwortungsbewußtsein, die natürliche Anmut, die ruhige Beherrschung zutage, die Remedios stets angesichts widriger Umstände bewahren sollte. So war sie es, die aus eigenem Antrieb das größte Stück, das sie von der Hochzeitstorte abschnitt, beiseite legte und auf einem Teller mit einer Gabel José Arcadio Buendía brachte. Am Stamm der Kastanie vertäut und auf einem Holzbänkchen unter dem Palmendach zusammengekauert, ließ der von Sonne und Regen verfärbte gewaltige Greis ein vages Lächeln des Dankes erkennen und aß die Tortenschnitte mit den Fingern, während er einen unverständlichen Psalm wiederkäute. Der einzige unglückliche Mensch bei dieser lärmenden Feier, die sich bis ins Morgengrauen des Montags hinzog, war Rebeca Buendía. Es war ihr gescheitertes Fest. Auf Grund von Ursulas Abmachung hätte ihre Hochzeit am selben Tag begangen werden sollen, doch Pietro Crespi erhielt am Freitag einen Brief, der ihm den bevorstehenden Tod seiner Mutter mitteilte. So wurde die Verehelichung verschoben. Pietro Crespi reiste eine Stunde nach Erhalt des Briefes in die Provinzhauptstadt und fuhr unterwegs an seiner Mutter vorbei, die pünktlich am Samstag abend ankam und an Aurelianos Hochzeit jenes wehmütige Lied sang, das sie für die Hochzeit ihres Sohnes einstudiert hatte. Pietro Crespi kehrte um Mitternacht des Sonntags zurück, nur um die Asche des Festes fortzufegen, nachdem er beim Versuch, rechtzeitig zu seiner eigenen Hochzeit anzukommen, unterwegs fünf Pferde zu Schanden geritten hatte. Es wurde nie ermittelt, wer den Brief geschrieben hatte. Von Ursula bedrängt, heulte Amaranta empört los und schwor auf ihre Unschuld vor dem Altar, den die Zimmerleute noch nicht abgebaut hatten.
Pater Nicanor Reyna — den Don Apolinar Moscote für die Traupredigt aus dem Moor geholt hatte — war ein vom Undank seines Berufs verhärteter Greis, seine über fast blanke Knochen gespannte Gesichtshaut war grau, sein Bauch war prall und hervorstehend, und er hatte den eher unschuldigen als gütigen Gesichtsausdruck eines gealterten Engels. Er hatte beabsichtigt, nach der Hochzeitsfeier in seine Pfarrei zurückzukehren, entsetzte sich jedoch über die seelische Dürre der Einwohner von Macondo, die im Ärgernis zu gedeihen schienen und nur dem Naturgesetz gehorchten, ohne ihre Kinder zu taufen und die Feiertage zu heiligen. Der Meinung, daß kein Stückchen Erde des Samens Gottes mehr bedürfe als dieses, beschloß er, noch eine Woche dazubleiben, um Beschnittene und Heiden zu Christen zu bekehren, wilde Ehen dem Gesetz zu unterwerfen und Sterbenden das Sakrament zu spenden. Doch niemand achtete seiner. Man erwiderte ihm, man habe viele Jahre hindurch ohne Priester gelebt, habe die Geschäfte der Seele unmittelbar mit Gott verhandelt und habe die Bosheit der Todsünde verloren. Zu müde, um in der Wüste zu predigen, schickte Nicanor sich an, den Bau eines Tempels zu unternehmen, des größten der Welt mit Heiligen in Lebensgröße und Glasfenstern in den Mauern, damit Leute aus Rom kämen und Gott mitten in der Unfrömmigkeit ehrten. Er hastete hierhin und dahin und bettelte mit einem Kupfertellerchen um Almosen. Man gab ihm viel, doch er forderte mehr, da ein Tempel eine Glocke brauche, deren Geläut die Ertrinkenden an die Oberfläche zurückbrächte. Er flehte so heftig, daß er seine Stimme einbüßte. Seine Knochen begannen sich mit Lauten zu füllen. Eines Samstags — er hatte noch nicht einmal den Wert der Türen gesammelt — verfiel er der Verzweiflung. So baute er einen Behelfsaltar auf dem Dorfplatz, lief am Sonntag mit einer Schelle durchs Dorf wie zu den Zeiten der Schlaflosigkeit und rief zur Feldmesse. Viele kamen aus Neugierde. Andere aus Sehnsucht.
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