Hundert Jahre Einsamkeit
unsinnige Briefchen, die er Amaranta zusammen mit getrockneten Blütenblättern und gepreßten Faltern zukommen ließ und die sie ungeöffnet zurückschickte. Er schloß sich Stunden um Stunden zitherspielend ein. Eines Nachts sang er. Macondo erwachte betört, wie im siebten Himmel, vom Zitherspiel, das nicht wie von dieser Welt klang, außerdem von einer so glutvollen Stimme, wie sie auf Erden nie vernommen worden war. Nun sah Pietro Crespi Licht in allen Häusern des Dorfes, doch keines in Amarantas Fenster. Am zweiten November, dem Totensonntag, machte sein Bruder den Laden auf und fand alle Lampen brennend, alle Musiktruhen angestellt und alle Uhren auf ein nicht enden wollendes ein Uhr angehalten — und inmitten dieses wirren Konzerts fand er Pietro Crespi im rückwärtigen Kontor mit durchgeschnittenen Pulsadern und beiden Händen in einem benzolgefüllten Becken liegend.
Ursula bestimmte, daß die Totenwache im Hause gehalten werde. Pater Nicanor widersetzte sich der kirchlichen Totenfeier und der Beerdigung in geheiligter Erde.
Ursula bot ihm die Stirn. »Auf irgendeine Weise, die weder Sie noch ich verstehen können, war dieser Mann ein Heiliger«, sagte sie. »Dann begrabe ich ihn gegen Ihren Willen neben Melchíades' Grab.« Sie tat es unter Unterstützung des ganzen Dorfs mit einer prächtigen Totenfeier. Amaranta verließ nicht ihr Schlafzimmer. Vom Bett aus hörte sie Ursulas Weinen, die Schritte und das Gemurmel der Menge, die ins Haus strömte, das Heulen oder Klagen der Weiber und gleich darauf eine tiefe, nach zertrampelten Blumen riechende Stille. Lange Zeit spürte sie noch gegen Abend Pietro Crespis Lavendelatem, besaß jedoch Kraft genug, um nicht dem Taumel zu verfallen. Ursula wandte sich von ihr ab. Sie hob nicht einmal die Augen, um sich ihrer zu erbarmen, als Amaranta eines Nachmittags in die Küche kam und die Hand auf die Herdglut legte, bis sie so schmerzte, daß sie keinen Schmerz mehr spürte, sondern nur noch den Pesthauch ihres versengten Fleisches. Das war eine Pferdekur gegen Gewissensbisse. Mehrere Tage lang ging sie durchs Haus, die Hand in einen Topf Eiweiß getaucht, und als ihre Brandwunden geheilt waren, schien es, als hätte das Eiweiß auch die Schwären ihres Herzens vernarbt. Die einzige äußere Spur, welche die Tragödie hinterlassen hatte, war die schwarze Gazebinde, die sie um die verbrannte Hand legte und die sie bis zu ihrem Tod tragen sollte.
Arcadio zeigte seltene Großzügigkeit, als er mit einem Erlaß offizielle Trauer für Pietro Crespi verordnete. Ursula deutete dies als Rückkehr des verlorenen Schafs. Doch darin irrte sie. Sie hatte Arcadio nicht erst verloren, seitdem er Uniform angezogen hatte, sondern schon immer. Sie glaubte ihn wie einen Sohn aufgezogen zu haben, so wie Rebeca, ohne Vorrechte, aber auch ohne Benachteiligungen. Dennoch war Arcadio ein einsames, verschrecktes Kind, und zwar ebenso während der Schlaflosigkeitspest, mitten in Ursulas Nützlichkeitsfieber, wie auch zur Zeit von José Arcadio Buendías Delirium, von Aurelianos Verschlossenheit, bei der mörderischen Rivalität zwischen Amaranta und Rebeca. Aureliano lehrte ihn lesen und schreiben und dachte dabei an anderes, genau wie es ein Fremder getan hätte. Er gab ihm seine Anzüge, damit Visitación sie kürzer mache, als sie bereits verbraucht waren. Arcadio litt an seinen viel zu großen Schuhen, an seinen geflickten Hosen, an seinem weiblichen Gesäß. Mit niemandem kam er zu einem vertrauten Verhältnis, das er mit Visitación und Cataure in deren Sprache genossen hatte. Melchíades war der einzige, der sich wahrhaft um ihn gekümmert hatte, der ihm seine unverständlichen Schriften vorgelesen und ihn in die Kunst der Daguerreotypie eingeweiht hatte. Niemand konnte sich vorstellen, wie tief und heimlich er dessen Tod beweinte und wie verzweifelt er ihn durch das nutzlose Studium seiner Papiere wieder zum Leben zu erwecken versuchte. Erst die Schule, in der er beachtet und geachtet wurde, und dann die Macht mit seinen eindeutigen Erlassen und seiner ruhmvollen Uniform vermochten ihn von der Last alter Bitternis zu befreien. Eines Nachts in Catarinos Butike wagte jemand zu ihm zu sagen: »Du verdienst deinen Zunamen nicht.« Wider alle Erwartung ließ er ihn nicht erschießen.
»Das ehrt mich«, antwortete er. »Ich bin kein Buendía.« Wer das Geheimnis seiner Abkunft kannte, mußte angesichts seiner Erwiderung annehmen, daß auch er Bescheid wußte, doch in Wirklichkeit
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