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Hundert Jahre Einsamkeit

Hundert Jahre Einsamkeit

Titel: Hundert Jahre Einsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel Garcia Marquez
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Schnecke zusammenrollte. Don Apolinar Moscote hing bewußtlos an dem Pfosten, vor dem die von den Schüssen des Übungsschießens zerfetzte Vogelscheuche gestanden hatte. Die jungen Leute des Trupps zerstreuten sich aus Furcht, Ursulas Unmut könne sich schließlich an ihnen auslassen. Sie gönnte ihnen jedoch keinen Blick, überließ den in seiner zerfetzten Uniform vor Schmerz und Wut tobenden Arcadio seinem Schicksal und band Don Apolinar Moscote los, um ihn nach Hause zu bringen. Bevor sie die Kaserne verließ, ließ sie die im Block Stöhnenden frei.
    Fortan regierte sie im Dorf. Sie führte die Sonntagsmesse wieder ein, schaffte den Gebrauch der roten Armbinden ab und setzte die gallensüchtigen Erlasse außer Kraft. Doch trotz ihrer Stärke beweinte sie nach wie vor das Unglück ihres Schicksals. Sie fühlte sich so einsam, daß sie die nutzlose Gesellschaft ihres unter dem Kastanienbaum vergessenen Ehemanns suchte. »Sieh, wohin wir gekommen sind«, sagte sie, während der Juniregen das Palmendach einzudrücken drohte. »Sieh das leere Haus, unsere Söhne sind in alle Welt zerstreut, und wir beide allein wie zu Anfang.« José Arcadio Buendía, abgesunken in einen Abgrund der Unbewußtheit, war taub für ihre Klagen. Zu Beginn seines Wahnsinns hatte er seine täglichen Bedürfnisse mit ungeduldigen lateinischen Brocken verständlich gemacht. Damals, als Amaranta ihm sein Essen brachte, hatte er ihr in flüchtigen Blitzen der Hellsicht seine drückendsten Beschwerden mitgeteilt und sich demgemäß ihren Schröpfköpfen und Senfpflastern gefügt. Doch jetzt, da Ursula sich bei ihm beschwerte, hatte er jede Berührung mit der Wirklichkeit verloren. Körperteil um Körperteil wusch sie den noch immer auf seinem Bänkchen Hockenden, während sie ihm von der Familie berichtete. »Aureliano ist seit mehr als vier Monaten im Krieg, seitdem haben wir nichts mehr von ihm gehört«, sagte sie, während sie ihm den Rücken mit einem Seifenlappen schrubbte. »José Arcadio ist wieder da, ein Mannsbild größer als du und ganz mit Kreuzstich bestickt, aber er ist nur gekommen, um unserem Haus Schande zu bringen.« Immerhin glaubte sie zu beobachten, daß die schlechten Nachrichten ihren Mann betrübten. Nun entschloß sie sich, ihn anzulügen. »Glaub nicht, was ich dir erzähle«, sagte sie, während sie Asche auf seine Exkremente schüttete, um sie auf der Schaufel wegzutragen. »Gott wollte, daß José Arcadio und Rebeca heirateten, und nun sind sie glücklich.« Sie brachte ihre Schwindeleien so aufrichtig vor, daß sie selber in ihren Lügen Trost fand. »Arcadio ist ein zuverlässiger Mann«, sagte sie. »Sehr tapfer und ein braver Junge mit seiner Uniform und seinem Säbel.« Es war, als spräche sie mit einem Toten, denn José Arcadio Buendía schwebte bereits jenseits aller Sorgen. Doch sie ließ nicht locker. Sie sah ihn so zahm, so gleichgültig gegen alles, daß sie beschloß, ihn loszubinden. Doch er rührte sich nicht von seinem Bänkchen. Blieb weiter Sonne und Regen ausgesetzt, als seien die Stricke überflüssig gewesen, weil eine allen sichtbaren Fesseln überlegene Macht ihn am Stamm der Kastanie festgebunden hielt. Um den Monat August, als der Winter seßhaft zu werden begann, konnte Ursula ihm endlich eine Nachricht geben, die Wahrheit schien.
    »Stell dir vor, das Glück läßt uns nicht in Frieden«, sagte sie. »Amaranta und der Italiener des Pianola wollen heiraten.« Amaranta und Pietro Crespi hatten im Vertrauensschutz Ursulas, die es diesmal nicht für nötig fand, Crespis Besuche zu überwachen, ihre Freundschaft vertieft. Es war eine dämmrige Verlobungszeit. Eine Gardenie im Knopfloch, kam der Italiener gegen Abend und übersetzte Amaranta Petrarcas Sonette in der von Majoran- und Rosenduft betäubten Veranda; und so las er vor, und sie webte Klöppelspitzen, bis die Mücken sie zwangen, im Wohnzimmer Zuflucht zu suchen. Amarantas Empfindsamkeit, ihre verhaltene und doch bestrickende Zärtlichkeit hatten um den Verlobten ein unsichtbares Spinnennetz gewebt, das er buchstäblich mit seinen bleichen ringlosen Fingern auseinanderziehen mußte, um das Haus um acht Uhr verlassen zu können. Sie hatten mit Pietro Crespis aus Italien erhaltenen Postkarten ein kostbares Album angelegt. Es waren Bilder von Liebespaaren in einsamen Parks, geschmückt mit Vignetten aus pfeildurchbohrten Herzen und von Taubenschnäbeln gehaltenen goldenen Schleifen. »Ich kenne diesen Park in Florenz«, sagte Pietro

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