Hundert Jahre Einsamkeit
sollte er es nie erfahren. Pilar Ternera, seine Mutter, die im Atelier der Daguerreotypie sein Blut zum Sieden gebracht hatte, war für ihn ein Gegenstand ebenso unwiderstehlicher Besessenheit, wie sie es zuerst für José Arcadio und später für Aureliano gewesen war. Obgleich sie ihre Anziehungskraft und den Glanz ihres Lachens eingebüßt hatte, suchte er sie und fand sie auf der Spur ihres Rauchgeruchs. Kurz vor dem Krieg, eines Mittags, als sie ihren jüngeren Sohn später als gewöhnlich an der Schule abholte, wartete Arcadio auf sie in dem Zimmer, in dem er seine Mittagsruhe abzuhalten pflegte, in jenem, in dem er später den Block aufstellen ließ. Während das Kind im Innenhof spielte, wartete er in der Hängematte, zitternd vor Begierde und wohl wissend, daß Pilar Ternera vorbeikommen mußte. Sie kam. Arcadio packte sie am Handgelenk und wollte sie in die Hängematte zerren. »Ich kann nicht, ich kann nicht«, sagte Pilar Ternera entsetzt. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie gerne ich dir zu Willen wäre, aber Gott ist mein Zeuge, daß ich nicht kann.« Mit seiner ererbten Wahnsinnskraft packte er sie um die Taille und fühlte, wie bei der Berührung ihrer Haut die Welt vor ihm verschwamm. »Spiel nicht die Heilige«, sagte er. »Schließlich weiß jedermann, daß du eine Hure bist.« Pilar überwand den Ekel, den ihr jammervolles Geschick in ihr hervorrief.
»Die Kinder werden es merken«, flüsterte sie. »Lieber heute nacht, schließe deine Tür nicht ab.«
Vor Fieber schlotternd, erwartete Arcadio sie in jener Nacht in seiner Hängematte. Er wartete schlaflos, hörte die lärmenden Grillen des endlosen Morgengrauens und den unerbittlichen Stundenplan der Rohrdommeln, immer noch davon überzeugt, daß er hintergangen worden war. Plötzlich, als seine Begierde in Wut umgeschlagen war, ging die Tür auf. Wenige Monate später sollte Arcadio vor dem Erschießungskommando wieder die irrenden Schritte im Klassenzimmer durchleben, das Stoßen an die Schulbänke, endlich das Dichte eines Körpers im Halbdämmer eines Zimmers und das Pochen eines heftig pumpenden Herzens, das nicht ihm gehörte. Er streckte die Hand aus und fand eine andere Hand mit zwei Ringen am selben Finger, die im Dunkeln zu schwanken schien. Er fühlte den Nervenbau ihrer Adern, den Pulsschlag ihres Unglücks, er fühlte die feuchte Handfläche, deren Lebenslinie am Ansatz des Daumens von der Pranke des Todes durchrissen war. Nun begriff er, daß es nicht die Frau war, die er erwartete, denn diese roch nicht nach Rauch, sondern nach Veilchenpomade, sie hatte geschwollene, blinde Brüste mit Männerwarzen, ein steinernes rundes Geschlecht wie eine Nuß und außerdem die wüste Zärtlichkeit aufgeregter Unerfahrenheit. Sie war Jungfrau und besaß den unwahrscheinlichen Vornamen Santa Sofía von der Frömmigkeit. Pilar Ternera hatte ihr fünfzig Pesos bezahlt, die Hälfte ihrer lebenslangen Ersparnisse, damit sie das tue, was sie jetzt tat. Arcadio hatte sie häufig gesehen, während sie das Lebensmittellädchen ihrer Eltern führte, doch sein Blick war nie auf ihr haftengeblieben, weil sie die seltene Tugend besaß, nur im geeigneten Augenblick ganz dazusein. Seit jenem Tag indes rollte sie sich wie eine Katze in der Wärme seiner Achselhöhle zusammen. Mit Zustimmung ihrer Eltern, denen Pilar Ternera die andere Hälfte ihrer Rücklagen gegeben hatte, kam sie in der Stunde des Mittagsschlafs in die Schule. Später, als die Regierungstruppen sie aus ihrer Bleibe vertrieben, liebten sie sich zwischen Butterkanistern und Maissäcken des Ladens. Zu der Zeit, als Arcadio zum Zivil- und Militärchef ernannt wurde, bekamen sie eine Tochter.
Die einzigen Verwandten, die es erfuhren, waren José Arcadio und Rebeca, mit denen Arcadio damals weniger auf Verwandtschaft, als auf Mitwisserschaft gegründete vertraute Beziehungen unterhielt. José Arcadio hatte unter dem Ehejoch den Nacken gebeugt. Rebecas Charakterstärke, der Heißhunger ihres Leibes, ihr beharrlicher Ehrgeiz saugten die ungewöhnliche Energie des Ehemanns auf, der aus einem Tagdieb und Schürzenjäger zu einem schwerfälligen Arbeitstier wurde. Sie hatten ein reinliches, ordentliches Haus. Bei Tagesanbruch öffnete Rebeca es sperrangelweit, und der Wind der Gräber wehte durch die Fenster herein und wehte durch die Türen des Innenhofs hinaus und weißte die Wände und gerbte die Möbel mit dem Salpeter der Toten. Der Hunger nach Erde, die klappernden Knochen ihrer Eltern und die
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