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Hundert Jahre Einsamkeit

Hundert Jahre Einsamkeit

Titel: Hundert Jahre Einsamkeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriel Garcia Marquez
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lebte bis ins hohe Alter von den Goldfischchen, die er in seiner Werkstatt in Macondo herstellte. Wenngleich er stets an der Spitze seiner Truppen kämpfte, fügte er sich die einzige Wunde, die er je erhielt, nach der Unterzeichnung der Kapitulation von Neerlandia, die nahezu zwanzig Jahre Bürgerkrieg beendete, selbst zu: Er schoß sich eine Pistolenkugel in die Brust, doch das Geschoß kam im Rücken heraus, ohne ein lebenswichtiges Organ verletzt zu haben. Das einzige, was von dem Ganzen zurückblieb, war eine nach ihm benannte Straße in Macondo. Im übrigen erwartete er nach eigenen, wenige Jahre vor seinem durch Altersschwäche erfolgten Tod gemachten Aussagen nicht einmal das an jenem Tagesanbruch, als er mit seinen einundzwanzig Männern auszog, um sich mit General Victorio Medinas Streitkräften zu vereinigen.
    »Wir lassen dich, Macondo«, war alles, was er vor dem Abmarsch zu Arcadio sagte. »Wir lassen dich wohlgeordnet zurück, sieh zu, daß wir dich wohlgeordneter wiederfinden.«
    Arcadio deutete diese Empfehlung auf sehr persönliche Weise. Er erfand sich eine Uniform mit Marschallstressen und -Schulterstücken, zu der ihn eine Abbildung aus einem von Melchíades' Büchern angeregt hatte, und band sich an seinen Gürtel den mit einer goldenen Quaste geschmückten Degen des erschossenen Hauptmanns. Er postierte die zwei Feldkanonen am Dorfeingang, steckte seine von seinen anfeuernden Aufrufen aufgewiegelten früheren Schüler in Uniform und ließ sie bewaffnet durch die Gassen patrouillieren, um die Fremden mit ihrer Unbezwinglichkeit einzuschüchtern. Das war eine zweischneidige List, weil die Regierung zehn Monate lang nicht wagte, die Garnison anzugreifen, doch als sie es dann tat, setzte sie eine so unverhältnismäßig starke Streitmacht ein, daß sie den Widerstand in einer halben Stunde brach. Vom ersten Tag seiner Vollmacht an offenbarte Arcadio seine Vorliebe für Erlasse. Bis zu vier Bekanntmachungen ließ er täglich ausrufen, um all das zu befehlen und anzuordnen, was ihm durch den Kopf ging. So führte er den Zwangsmilitärdienst vom achtzehnten Lebensjahr an ein, erklärte die Tiere, die nach sechs Uhr abends in den Straßen gesehen wurden, zum Gemeinbesitz und verpflichtete alle mündigen Männer, eine rote Armbinde zu tragen. Pater Nicanor erlegte er unter Androhung des Erschießens Hausarrest im Pfarrhaus auf und verbot ihm, die Messe zu lesen und die Glocken zu läuten — es sei denn, um Siege der Liberalen zu feiern. Damit niemand an der Strenge seiner Absichten zweifle, ließ er ein Erschießungskommando auf dem öffentlichen Platz auf eine Vogelscheuche Zielübungen machen. Anfangs nahm ihn niemand ernst. Schließlich waren es ja nur Schuljungen, die Erwachsene spielten. Doch eines Nachts, als Arcadio in Catarinos Butike trat, begrüßte der Trompeter der Kapelle ihn mit einem Fanfarenstoß, der das Gelächter der Kundschaft entfesselte, worauf Arcadio ihn wegen Mißachtung der Autorität erschießen ließ. Wer Einspruch erhob, wurde bei Wasser und Brot an den Fußknöcheln in den Block geworfen, den er in einem Klassenzimmer der Schule aufstellen ließ. »Du bist ein Mörder!« schrie Ursula ihn jedesmal an, wenn ihr eine neue Tat der Willkür hinterbracht wurde. »Wenn Aureliano das erfährt, wird er dich erschießen lassen, und ich bin die erste, die frohlocken wird.« Doch es war alles umsonst. Arcadio zog die Schrauben einer unnötigen Strenge immer mehr an, bis er zum grausamsten Statthalter wurde, der je in Macondo geherrscht hatte. »Nun könnt ihr den Unterschied spüren«, sagte Don Apolinar Moscote einmal. »Das also ist das liberale Paradies.« Arcadio erfuhr es. An der Spitze seiner Patrouille überfiel er das Haus, zerschlug alle Möbel, verprügelte die Töchter und schleppte Don Apolinar Moscote mit. Als Ursula in den Kasernenhof stürzte, nachdem sie »Schande« schreiend und einen geteerten Ochsenziemer schwingend durchs Dorf gerast war, schickte sich Arcadio an, dem Erschießungskommando höchstpersönlich Befehl zum Feuern zu erteilen.
    »Wage es, Bastard!« schrie Ursula.
    Bevor Arcadio Zeit zu einer Regung fand, versetzte sie ihm den ersten Peitschenhieb. »Wage es, du Mörder!« schrie sie. »Und bring auch mich um, Sohn einer schlechten Mutter. Dann werde ich keine Augen mehr haben, um über die Schande zu weinen, ein Ungeheuer aufgezogen zu haben.« Und ihn erbarmungslos peitschend, verfolgte sie ihn bis in den Innenhof hinein, wo Arcadio sich wie eine

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